Seit einigen Jahren ist es populär bestimmte Momente fotografisch festzuhalten, um sie – beinahe in Echtzeit – in diversen sozialen Netzwerken einem größeren Publikum zu präsentieren. Das ist grundsätzlich nichts Neues, denn der Wunsch danach den Moment zu konservieren ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Die ersten Höhlenmalereien von Chauvet oder El-Castillo entstanden nach heutigem Wissen vor zirka vierzigtausend Jahren. Die ganze darauffolgende Kunst – sofern sie mimetisch war – stellt nichts anderes als den Versuch dar, den Moment in Form eines Bildes zu fixieren.  Die ursprüngliche Malerei war dabei natürlich nicht nur die Verbildlichung eines speziellen Moments, sondern immer bereits auch – und wahrscheinlich in erster Linie – künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.

Die Erfindung der Fotographie

Doch spätestens mit Erfindung der Fotographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fingen die Dinge an, sich zu verändern. Mit den ersten massentauglichen Fotoapparaten hatten jetzt auf einmal viele Menschen die Möglichkeit, die unmittelbare Gegenwart sofort im Bild festzuhalten, ohne sich mit ihr in künstlerischer Weise auseinandersetzen zu müssen. Natürlich gibt es auch Fotographie als Kunstform. Hiervon soll aber jetzt nicht die Rede sein.

Das traditionelle Fotografieren vollzog sich in der Regel in drei Schritten: Man nahm den Moment wahr, hielt ihn fotografisch fest und betrachtete das Ergebnis Tage oder auch erst Wochen später und konnte sich so das Erlebte wieder in Erinnerung rufen. Doch mit der Erfindung der Digitalfotographie und der Möglichkeit, Fotos innerhalb von Sekunden im Internet zu veröffentlichen, erreichte die Fixierung der Gegenwart eine neue Qualität und fing an, problematisch zu werden. Und diese Problematik ist nicht zuletzt auch eng verknüpft mit dem Phänomen der Zeit, denn mit der ist es eine merkwürdige Sache…

Das Problem der Zeit

Von Augustinus stammt der berühmte Satz, „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich‘s, will ich‘s aber einem Fragenden erklären, weiß ich‘s nicht.“ Wir teilen erfahrungsgemäß die Zeit in drei Abschnitte ein: in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das erscheint uns auf den ersten Blick als völlig klar und unproblematisch und jeder weiß, was damit gemeint ist. Der große Kirchenlehrer hat aber bereits in seinen „Bekenntnissen“ darauf aufmerksam gemacht, dass sich das bei näherer Betrachtung als etwas schwieriger darstellt. Denn eigentlich gäbe es nur die Gegenwart. Wenn wir uns Vergangenes vergegenwärtigen (das Wort deutet bereits darauf hin), täten wir das ja in diesem Moment, in Form der Erinnerung. Wenn wir uns Zukünftiges vorstellen, täten wir auch das in der Gegenwart, in Form der Erwartung. Vergangenheit und Zukunft existierten so gesehen nicht, bis wir sie aus ihrer Erstarrung durch Vergegenwärtigung befreien. In Wahrheit gibt es also nur die Gegenwart, denn Vergangenes ist nicht mehr und Zukünftiges noch nicht. Die Gegenwart selbst offenbart sich uns durch Anschauung, ist aber gleichzeitig die unverständlichste aller zeitlichen Modi. Gegenwart entsteht ja erst im permanenten Übergang von Erwartetem zu Vergangenem, ohne selbst wirklich in Erscheinung zu treten; und doch wissen wir, was Gegenwart für uns bedeutet. Nicht nur das, wir leben erst dann wirklich, wenn wir in der Gegenwart leben. Über längere Zeit in der Vergangenheit zu leben ist ein Zeichen für ein unerfülltes Leben – was nichts anderes ist als tote Gegenwart. Wer nichts mehr vom Leben erwartet, somit auch keine Zukunft mehr hat, flüchtet sich in die Vergangenheit, als den Ort vermeintlicher Sicherheit, und fängt so schon im Leben an zu sterben. Es geht ihm dabei wie Lots Frau, die sich nach dem untergehenden Sodom umdreht und so zur Salzsäule erstarrt.

Die Zerstörung des Augenblicks durch seine permanente „Verzukünftigung“. Foto: iStock

Doch wie der Mensch an einer Fixierung auf die Vergangenheit leiden kann, so auch an einem permanenten Ausgerichtetsein auf die Zukunft, bzw. auf zukünftige Ereignisse hin. Nur in der Zukunft zu leben heißt aber, überhaupt nicht zu leben. Das Leben in der Vergangenheit lässt uns erstarren, das Leben in der Zukunft aber löst uns auf. Wir starren wie gebannt auf Künftiges und vergessen dabei die einzige Wirklichkeit – unsere Gegenwart. Doch genau diese Gegenwart, so unverständlich sie auch sein mag, ist der Ort unseres Handelns. Hier nur leben wir wirklich, treffen unsere Entscheidungen, ja mehr noch, sie ist der Hort der Ewigkeit. Wer kennt ihn nicht, den Augenblick der Ewigkeit, in dem man spürt: jetzt kann ich sterben. Oder anders formuliert: Wer diesen Augenblick nicht kennt, hat vielleicht nie gelebt. Wittgenstein schrieb in seinem Tractatus logicus philosophicus: „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.“

Die Zerstörung des Augenblicks

So sieht es bei der aktuellen Form der Fotografie im ersten Moment beinahe so aus, als ob mit der permanenten Möglichkeit, den Augenblick in digitalisierter Form festzuhalten eine Hinwendung zur Gegenwart vollzogen würde, aber in Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Im gleichen Moment, in dem wir den Augenblick digital fixieren, um ihn anschließend, wo auch immer, zu veröffentlichen, haben wir ihn auch schon verloren. Wir haben ihn verloren, da wir ihn nur noch im Hinblick auf seine mediale Verwertbarkeit wahrnehmen. Wir sehen die Welt sozusagen durch die Brille der zukünftigen Möglichkeit ihrer Online-Präsentation. Was also im ersten Moment wie eine Wiedergeburt des Augenblicks aus dem Geist von Facebook aussieht, ist bei näherer Betrachtung seine Zerstörung durch seine permanente „Verzukünftigung“ vor dem Hintergrund viraler Verwurstung. Den Moment in seiner ganzen Größe und Wucht kann nur wahrnehmen, wer sich freimacht sowohl von Erinnerung als auch von Erwartung. Ein anderes Wort dafür ist das – leider zu Tode gequälte – Wort Achtsamkeit.

Die Welt nur noch mittelbar durch die Linse eines Mobiltelefons wahrzunehmen, anstatt sich unmittelbar auf sie einzulassen muss auf Dauer zerstörerisch wirken. Denn wer sich nicht mehr auf diese Gegenwart einlässt, dem verkümmern die Sinne. Er bricht die Kommunikation mit der Welt ab oder lässt sich erst gar nicht mehr auf sie ein. Die unmittelbare Kommunikation mit der Gegenwart wird ersetzt durch die mittelbare der Möglichkeit sofortiger medialer Verwertung. Alle Erfahrung ist somit nur mehr vermittelte, weil unmittelbar reflektierte Erfahrung. Hier gibt es keine Intuition mehr, keine prärationale Empfindung des unendlichen Glücks absoluter Gegenwart, hier regiert nur noch der kühle Verstand.

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis müssen wir aufpassen, keine depressive Gesellschaft zu werden, die durch den Versuch, den Augenblick festzuhalten in Wahrheit vor ihm flieht – Heidegger nannte es die Verfallenheit an das man – und sich dadurch immer tiefer in die Verzweiflung hineinschraubt, der sie doch gerade entgehen will. Denn wirkliches Glück, auch wenn es nur Bruchteile von Sekunden dauert, gibt es nur in der Wahrnehmung absoluter Gegenwart, sei es im Gespräch mit einem Freund, einer Freundin, in einem stillen Moment mit sich allein, in Momenten intensiver Zweisamkeit, beim Lesen eines Buches, beim Betrachten eines Gemäldes, beim Hören von Musik (die sich ohnehin nicht fotografisch fixieren lässt). In all diesen Momenten sollte man sein Handy (oder was auch immer) ausschalten, Facebook vergessen, den Augenblick genießen und für kurze Zeit unsterblich sein. Ein Foto machen kann man hinterher immer noch.

 

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Ökologie und Gesellschaft.

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