Dass Philipp Blom ein großer Bewunderer und Kenner der Aufklärung ist, hat er spätestens mit seinem im Jahr 2010 erschienenen Buch „Böse Philosophen“ gezeigt, in dem er die wichtigsten Protagonisten der Aufklärung und ihre Ideen porträtierte. Wenn es dort am Ende des Vorworts heißt, „die Werke der radikalen Aufklärung […] zeigen, wie viel wir für die Menschlichkeit gewonnen und verwirklicht haben, aber auch, wie weit der Weg noch ist und wie groß die Gefahr, diese Errungenschaften wieder zu verlieren“, dann ist das exakt der Punkt, an dem sein aktuelles Buch ansetzt. Denn Blom sieht die westlichen liberalen Demokratien genau in dieser Gefahr. Dass er mit seiner Einschätzung nicht falsch liegt, zeigt ein Blick auf die USA und verschiedene europäische Länder.

Die Dialektik der Aufklärung

Für Blom ist die Demokratie ein historischer Glücksfall, „ein gewagtes Experiment mit offenem Ausgang“ und der liberale Traum mit Freiheit und Menschenrechten „der schönste Traum, den die Menschheit jemals geträumt hat“. Doch dieser Traum wurde dem Autor zufolge kompromittiert. Um diese Zerstörung zu dokumentieren, widmet sich Blom ausführlich der dunklen Seite der Aufklärung, ihrer Dialektik, wie sie von Adorno, Foucault und anderen bereits ausführlich beschrieben wurde.

Seine Kritik entzündet sich vor allem an der Tatsache, dass der Liberalismus der westlichen Länder immer mehr durch marktfundamentalistisches Denken überdeckt wird und sich dadurch stückweise selbst abschafft. Darüber hinaus wirft er ihnen die selektive Interpretation humanistischer Werte vor. Diese würden wir gerne für uns selbst in Anspruch nehmen, während unser eng mit der Aufklärung verbundenes kapitalistisches Wirtschaftssystem andere Menschen und Länder oft ohne Rücksicht auf Verluste ausbeute. Dadurch hätte sich die Welt in zwei Lager gespalten, den „Markt“ und die „Festung“. Das heißt, auf der einen Seite diejenigen, denen es möglich ist am Wohlstand zu partizipieren und weiterhin von der Globalisierung zu profitieren und in den großen Teil der Verlierer, die am liebsten wieder zurück in eine vermeintlich bessere Vergangenheit wollen, die es so natürlich nie gegeben hat.

Philipp Blom - Was auf dem Spiel steht. Rezension von Eckart Löhr
(Foto: Hanser Verlag)

Daneben sieht Blom als größte Herausforderungen für die liberalen Demokratien die Digitalisierung und damit verbunden den Verlust von Arbeitsplätzen, den Klimawandel mit allen negativen Folgeerscheinungen und die, wie er es nennt, „Umerzählung von Menschen zu Verbrauchern“. Wenn Blom in Bezug auf die Digitalisierung schreibt, dass die Maschinen, einmal zu Bewusstsein gekommen, den Menschen als überflüssig eliminieren werden, ist das schon eine ziemlich steile These. Da hat er entweder zu viel Terminator geguckt oder zu viel John Gray gelesen, der zum Teil ähnliche Theorien vertritt.

Neben all dem ist für den Autor vielleicht das größte Problem die Tatsache, dass der liberale Westen heute kein gemeinsames Ziel mehr formulieren kann. Nach 1945 war das, Blom zufolge, noch der Glaube an ein stetiges Wirtschaftswunder, der die Gesellschaft zusammengehalten hat. Doch heute würden wir nur noch „in den verfallenen Strukturen eines Nachkriegstraums hausen“. Und wenn Blom am Ende seiner Analyse unserer gegenwärtigen Situation auch noch Parallelen zur Weimarer Republik und ihrem Untergang sieht, fällt das Fazit seiner Überlegungen alles andere als positiv aus, auch wenn er anmerkt, dass die Zukunft noch nirgendwo geschrieben steht und die Menschheit jederzeit auch andere Wege einschlagen könnte.

Umstellung des westlichen Geschäftsmodells 

Nach Blom ist eine „radikale Umstellung des westlichen Geschäftsmodells notwendig“. Dabei ist er vorsichtig optimistisch und begründet diesen Optimismus mit einem Blick in die Vergangenheit, wo es schon immer eines langen Atems bedurfte, um Dinge wie Gleichberechtigung, Akzeptanz von Minderheiten, u.a. durchzusetzen. So hofft er auf eine „neue Aufklärung“ der Zivilgesellschaft und fragt sich, „ob der liberale Traum die emanzipatorische Energie zurückgewinnen kann, die es ihm schon einmal ermöglichte, die Welt neu zu erfinden.“

Wie diese neue Welt aussehen könnte, zeigt uns der Autor in einem der letzten Kapitel, das allerdings den schwächsten Teil dieses sonst sehr lesenswerten Buches darstellt. Denn hier hätte Blom die Möglichkeit gehabt, wirkliche Alternativen zum vorherrschenden konsumtiven und expansiven Wirtschaftsmodell darzulegen. Leider gibt er sich mit der bloßen Extrapolation der gegenwärtigen positiven Entwicklungen in die Zukunft zufrieden, mit dezentraler Energieversorgung und artgerechter Tierhaltung. Darüber hinaus überschätzt er die Rolle der Technik bei der Lösung unserer Probleme und geht mit keinem Wort auf ihre möglichen Kollateralschäden ein – Stichwort Gentechnik. All die guten, gerade im Entstehen begriffenen Vorhaben, werden unser grundsätzliches Problem aber nicht lösen, weil sie zwar das Richtige sind, aber leider im falschen System. Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, bei dem sich im Übrigen ein paar Überschneidungen mit Bloms Analysen finden, erkannte bereits scharfsinnig, dass „solange ein kulturelles Modell wie die Kultur des ALLES IMMER in toto erhalten bleibt, sich die Transformation eines ihrer Elemente in eine Optimierung des Falschen übersetzt.“  Auch wenn der Autor revolutionäre Umbrüche andeutet, bleibt das doch alles sehr schwammig und wenig greifbar. So heißt es auch dementsprechend, er wolle „keine ideale Welt entwerfen, keine Utopie.“ Das ist in Anbetracht des Scheiterns der großen gesellschaftlichen Utopien des 20. Jahrhunderts durchaus nachvollziehbar und doch brauchen wir konkrete Utopien und nicht nur den in die Zukunft verlängerten Status Quo guter Ideen. Die Aufklärung selbst war, ist und bleibt eine große Utopie.

Philipp Blom hat mit diesem Buch eine hervorragende Diagnose der gegenwärtigen Situation geliefert. Jeder der verstehen will, was gerade auf dieser Welt geschieht, sollte sich deshalb mit seinen Analysen auseinandersetzen. Nach der Diagnose kommt aber bekanntlich die Therapie und die reicht bei weitem nicht hin, die gewaltigen Probleme in den Griff zu bekommen, mit denen wir gerade weltweit konfrontiert sind.

Philipp Blom: Was auf dem Spiel steht. Hanser Verlag, München Juli 2017. 224 Seiten, 20 Euro

Die spanische Übersetzung dieser Rezension erschien im März 2022 auf paniko.cl

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Ökologie und Gesellschaft.

1 Kommentar

  1. Ich kann Dr. Blom auch in diesen Gedanken nur zustimmen. Er hat die Gabe und Fähigkeit, die Themen die er aufgreift, sehr prägnant und pointiert darzustellen.

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