Wo stehen wir als Gesellschaft – ökologisch, in der Stadt, auf dem Land, in der Krise? Ernst Paul Dörfler schreibt vom öden, rückständigen Image des Landlebens, von der langen Geschichte der Landflucht – »der Völkerwanderung der Moderne«, wie er es nennt. Und obwohl er feststellt, dass inzwischen über die Hälfte der Menschheit in Städten lebt und dieser Anteil bis 2050 auf 70% wachsen soll, lasse die Anziehungskraft der Stadt als Lebensraum nach. Zumindest wenn man einer Umfrage des Meinungsinstituts »Forschungsgruppe Wahlen« vom März 2018 Glauben schenkt – 44% der Stadtbevölkerung träumen laut der Erhebung vom ruhigeren Landleben. Es wird schnell klar, dass auch Dörfler die größten Zukunftschancen auf dem Land sieht – sein Buch ist ein Plädoyer für die Rückkehr dorthin, einerseits. Andererseits ist es eine Forderung nach mehr Wertschätzung für das Land.

Die Stadt als Ökoschmarotzer

Denn er erinnert daran, dass das Ökosystem Stadt in unserer modernen Gesellschaft nur auf Kosten des Ökosystems Land existieren kann. Rasant wachsende Städte produzieren zunehmend Müll, Abwasser, Abluft – der reinigende Wald, die saubere Atmosphäre, aber auch Kläranlagen, Mülldeponien und Verbrennungsanlagen befänden sich in der Regel auf dem Land. »Somit versorgt der außerstädtische Raum die städtischen Ballungsräume nicht nur mit dem Lebensnotwendigen, er übernimmt auch die Entsorgung von Überflüssigem und Schädlichem,« schreibt Dörfler. Die Stadt hingegen übernehme in zweifacher Hinsicht die Rolle eines Ökoschmarotzers. Diese Gegenüberstellung hinkt natürlich insofern etwas, da es sich ja hierbei nicht um ein strukturelles Stadt-Land-Problem, sondern um eine Folge der höheren Verbraucherdichte handelt. Wenn sämtliche Stadtbewohner*innen aufs Land zögen, würden sich die Abluft-, Müll- und Abwasserwerte eben dort verschlechtern.

Der Autor lenkt den Blick im weiteren auf die Natur, die uns in Mitteleuropa und Deutschland umgibt – die Luft, das Klima, der Boden, die Wälder. Hier glänzt der Ökologe als feinsinniger Beobachter, der in diversen Exkursen wichtige Randaspekte aufgreift, die oft wenig thematisiert werden. Ein Beispiel dafür ist die Bedeutung von Mooren, deren Fähigkeiten lange Zeit nicht gesehen und die für landwirtschaftliche Nutzung trocken gelegt wurden. Doch Moore sind nicht nur Lebensräume für seltene Pflanzen und Tiere, sondern auch exzellente Kohlenstoffspeicher. »Sie schlucken das Treibhausgas Kohlendioxid und halten es in ihrem nassen Körper für die Ewigkeit fest,« so Dörfler. Auch über die Muttererde erfährt man Spannendes. So sei es kaum bekannt, schreibt der Ökologe, dass unser Boden nach den Ozeanen der größte Kohlenstoffspeicher der Welt ist. Kompetent aufbereitete Informationsstränge, doch zuweilen fehlt der rote Faden. Es ist mehr ein Puzzle.

Dörflers Herkunft als Ausgangspunkt seines ökologischen Bewusstseins

(Cover: Hanser Verlag)

Das ändert sich, sobald der Bezug zu Dörflers eigener Geschichte klar wird und diese ins Buch einfließt. Denn sein ökologisches Bewusstsein ist eng verwoben mit frühen beruflichen Erfahrungen und der Konfrontation mit politischen Realitäten. Dörfler ist in einem kleinen Ort in der ehemaligen DDR aufgewachsen, wo er nach eigener Aussage schon als Kind die Abhängigkeit von der Natur erfuhr. Nach einem Chemiestudium in Magdeburg und ersten beruflichen Stationen arbeitete er schließlich als Ökochemiker am Institut für Wasserwirtschaft, das dem DDR-Umweltministerium direkt unterstellt war. Dort sammelte er Daten zur Schadstoffbelastung, die derart brisant waren, dass sie unter Verschluss kamen und nicht veröffentlicht werden durften. Auch nach der Wende blieben sie unauffindbar.

Dieses Ereignis war ein Wendepunkt im Leben des idealistischen Ökologen. Dörfler kündigte, begann als freier Schriftsteller zu arbeiten und langsam verlagerte sich sein Lebensmittelpunkt – zuerst zeitweise, schließlich endgültig – wieder aufs Land. Als Schlüssel zu seiner Selbstbestimmung lernte er Reduktion. Weniger aneignen, weniger konsumieren. Durch die Reduktion und niedrigere Wohnkosten auf dem Land ergeben sich weniger finanzielle Zwänge, Raum für sinnstiftende Tätigkeiten entsteht. In Dörflers Fall bedeutet das Selbstständigkeit und Bücher schreiben, aber auch Selbstversorgung durch Anbau im eigenen Garten, lernen von der Natur. »Auf dem Land liegen die Quellen für unsere eigene Gesundheit ebenso wie für eine Genesung unserer Gesellschaft«, so Dörfler. Er bedauert den breitflächigen Verlust von traditionellem landwirtschaftlichem Wissen, schöpft aber Hoffnung durch dessen Wiederentdeckung im Ökolandbau.

Aufs Land ziehen

Er lädt andere mit klugen und durchaus pragmatischen Anleitungen dazu ein, die Gestaltungsfreiheit über das eigene Leben im Einklang mit der Natur zurückzugewinnen. Manchmal liest sich das als direkte Einladung aufs ostdeutsche Land zu ziehen. Denn, so zitiert er aus einer Studie des Ifo-Instituts von 2019: Ostdeutschland ist so leer wie seit 1905 nicht mehr. Großes Potential für Innovation und Gestaltungsfreude also. Dörfler ist kein Nostalgiker, er warnt sogar davor, das arbeitsintensive Landleben zu romantisieren. Doch er benennt wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte, die dennoch für einen Umzug sprechen.

Ernst Paul Dörfler: Aufs Land. Wege aus Klimakrise, Monokultur und Konsumzwang. Hanser Verlag 2021.

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Die Autorin hat Politik, Internationale Entwicklung und Journalismus in Lille und Wien studiert und lebt und arbeitet derzeit als freie Journalistin in Leipzig.