Auf Youtube ist ein Video verfügbar, das eine Rede von Stefano Mancuso mit dem Titel Are plants conscious? zeigt. Am Anfang seiner Ausführungen berichtet Mancuso von einem Experiment, das er vor einigen Jahren mit verschiedenen Gruppen seiner Studenten gemacht hat. Er zeigte ihnen vier Bilder. Auf drei der Bilder sind jeweils Tiere zu sehen, auf dem vierten zwei Menschen. Allen Bildern ist dabei gemeinsam, dass achtzig Prozent ihrer Fläche Pflanzen zeigen. Trotz dieser Tatsache antworteten jeweils 96 Prozent der Studierenden auf die Frage, was sie gerade gesehen haben mit: zwei Rehe, einen Elch, einen Frosch und ein Menschenpaar.

Mancuso spricht in diesem Zusammenhang von einem eigenartigen, aber bekannten Phänomen, das als Pflanzenblindheit bezeichnet wird. Es ist die Unfähigkeit, Pflanzen in ihrer Umgebung wahrzunehmen. Sie stellen für uns in der Regel lediglich den Hintergrund dar, vor dem sich das »echte« Leben abspielt. Diese reduzierte Wahrnehmung von Natur sei, so Mancuso, eine Schutzfunktion des Gehirns, um nicht zu viele Eindrücke gleichzeitig verarbeiten zu müssen. Denn evolutionär bedingt wäre es vor allem überlebenswichtig gewesen, Tiere oder andere Menschen wahrzunehmen. So würde das, was früher eine wichtige Funktion des Überlebens war, heute zum Problem.

Mancuso zeigt die zentrale Stellung der Pflanzen in der Natur

So versucht Mancuso, der im Übrigen Professor für Pflanzenkunde an der Universität Florenz ist, in seinen Büchern vor allem, uns eine andere Perspektive auf die Pflanzen zu eröffnen. Er betont zum einen ihre zentrale Stellung als Energielieferanten innerhalb des Ökosystems und ihre fundamentale Rolle, die sie im Kohlenstoffkreislauf der Erde spielen. Zum andern beschreibt er sie als intelligent, bewusst und somit auch als wahrnehmend und fühlend. Sein 2015 erschienenes Buch Die Intelligenz der Pflanzen war ein Bestseller.

Doch sein aktuelles Buch ist vor allen Dingen deshalb ungewöhnlich, da Mancuso hier biologische Fakten mit politischen Überlegungen und Forderungen verknüpft. Der deutsche Titel des Buches ist somit irreführend, denn Die Pflanzen und ihre Rechte deutet doch eher auf ein umweltethisches Buch hin. Der italienische Originaltitel lautet dagegen la nazione delle piante und trifft den Inhalt dieses Buches wesentlich besser. Denn Mancuso betrachtet die Pflanzen als wären sie Teil einer Nation und beschreibt sieben Säulen, auf denen diese Nation ruht. Das reicht von der Erkenntnis, dass die Erde die gemeinsame Heimat allen Lebens ist, über die »universellen Rechte aller gegenwärtigen und zukünftigen Lebewesen«, bis zur wichtigen Feststellung, dass die Nation der Pflanzen keine Grenzen kennt.

Aus Sicht der Pflanzen werden auch die vom Menschen geschaffenen hierarchisch strukturierten Systeme kritisiert und diesen die ganzheitliche Struktur der Pflanzen gegenübergestellt. Denn Pflanzen, so Mancuso, seien modular aufgebaut. »Einzelne Module reihen sich endlos aneinander und bilden auf diese Weise immer größere und komplexere Strukturen, die jedoch kein wirkliches Zentrum besitzen.« Dadurch hätte sich die »Nation der Pflanzen […], indem sie ausschließlich auf dezentrale und modulare Organisationsformen setzt, für immer von den Problemen befreit, die mit der Fragilität, Bürokratie, Entscheidungsferne, Erstarrung und Ineffizienz hierarchisch oder zentral strukturierter Tierorganisationen einhergehen.«

Migration als Menschenrecht

Buchcover: Klett-Cotta Verlag

Interessant ist auch seine Perspektive auf die Migration. Diese würde von jeher eine Überlebensstrategie darstellen. Fast immer sind es, so Mancuso, »Veränderungen in der Umwelt, die eine Art dazu veranlassen, sich auf Wanderschaft zu begeben.« Wenn wir demnach Menschen daran hindern, ihre Heimat zu verlassen, begehen wir »ein Verbrechen wider die Natur. Migration sollte ein Menschenrecht sein.« Hier ließe sich hinzufügen, dass es in der Regel die reichen Länder sind, die Menschen daran hindern »ihre Heimat zu verlassen.« Drastischer formuliert: wir lassen sie buchstäblich im Mittelmeer ersaufen! Wo es doch gerade diese Länder sind, die durch ihren hyperkonsumtiven Lebensstil, ihre aggressive und nicht nachhaltige Art des Wirtschaftens gepaart mit Protektionismus und massiven Subventionen maßgeblich für die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den ärmeren Ländern verantwortlich sind.

So überzeugend Mancusos Begründung für ein Recht auf Migration auch ist, verletzt es auf der anderen Seite Humes Gesetz, das besagt, dass aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Wenn Mancuso das Recht auf Migration aus der Natur ableitet, begeht er somit das, was man einen naturalistischen Fehlschluss (George Edward Moore) nennt. Auch wenn in diesem Fall die Analogie richtig und angemessen erscheint, wäre es doch besser, das Recht auf Migration anders und ohne den Rekurs auf die Natur zu begründen. Denn sobald man es zulässt, aus dem gegebenen Zustand der Welt präskriptive ethische Aussagen abzuleiten, gerät man schnell in Schwierigkeiten. So ließe sich auch das Recht des Stärkeren auf die menschliche Gesellschaft übertragen, was unter dem Begriff Sozialdarwinismus im Übrigen auch praktiziert wurde und zum Teil immer noch wird. Nicht zuletzt hat auch die neoliberale Ideologie unserer Zeit hier ihre Wurzeln.

Was wir von Pflanzen lernen können

Doch Mancuso ist gerade ein scharfer Kritiker sozialdarwinistischen Denkens vom Schlage eines Thomas Henry Huxley oder Francis Galton. Für ihn ist vor allem die Kooperation der Motor der Evolution und »die Kraft, die das Leben gedeihen lässt, und die Nation der Pflanzen erkennt sie als wichtigstes Mittel für den Fortschritt von Gemeinschaften an.« Dieses gewaltige Netzwerk der Zusammenarbeit erstreckt sich über den gesamten Planeten und bildet das, was der britische Wissenschaftler James Lovelock als Gaia bezeichnet hat. Unter Gaia versteht Lovelock ein lebendiges, sich selbst regulierendes Wesen und Mancuso teilt diese Auffassung, wenn er schreibt, dass »Gemeinschaften die Grundlage des Lebens auf der Erde sind [und diese] – ganz im Sinne der Gaia-Theorie – als ein einziges Lebewesen betrachtet werden« soll. Mancuso beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf die Biologin Lynn Margulis, die mit der von ihr entwickelten Endosymbiontentheorie überzeugend nachgewiesen hat, dass Kooperation das zentrale Movens evolutiven Geschehens ist.

So ist Mancusos Buch vor allem der Versuch zu zeigen, dass Pflanzen sozusagen die besseren Menschen sind. Sie verfügen über Eigenschaften, die bei uns zu wenig ausgebildet sind oder zumindest nicht hinreichend zur Geltung kommen. Er plädiert in diesem Zusammenhang dafür, von den Pflanzen zu lernen. Das beinhaltet im Einzelnen den Aufruf zur Kooperation, die Anerkennung der Rechte aller natürlichen Gemeinschaften, die Ablehnung von Hierarchien, nachhaltiges Wirtschaften, die Freiheit »ohne Einschränkung zu reisen, zu leben und sich zu bewegen« sowie den Appell zu gegenseitiger Hilfe als »Mittel des Zusammenlebens und des Fortschritts.« Im Gegensatz zu vielen anderen Publikationen, die lediglich die Zerstörung der Natur und die damit vermeintlich einhergehende Apokalypse zum Thema haben, hat Mancuso ein konstruktives Buch geschrieben, das uns zeigt, was wir von den Pflanzen lernen können und müssen, um die Natur nicht noch weiter zu zerstören und auch den kommenden Generationen eine lebensfreundliche Welt zu hinterlassen.

Stefano Mancuso: Die Pflanzen und ihre Rechte. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 149 Seiten, 18 Euro

AcademiaHier finden Sie den Artikel in einem druckfähigen Format
Vorheriger ArtikelMut zu träumen
Nächster Artikel»Nichts beginnt zu der Zeit, zu der man es glaubt«
Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Ökologie und Gesellschaft.

Kommentieren Sie den Artikel

Kommentar hinterlassen
Name einfügen