Angesichts der immensen ökologischen, ökonomischen, politischen und sozialen Probleme, mit denen wir weltweit konfrontiert sind, glauben ja nicht wenige, am Horizont würde sich bereits der Untergang der Welt abzeichnen. Aber was sie da sehen ist vielleicht gar nicht die globale Apokalypse, sondern in erster Linie der Untergang unserer Zivilisation: Die Götterdämmerung einer Zivilisation, die, von sich und ihren Erfolgen besoffen, zu lange darauf gebaut hat, alles durch Wissenschaft und Technik lösen zu können. Einer Zivilisation, die glaubte, sie könne ihren Wohlstand unendlich vermehren und dabei blind war für ihre Opfer. Einer Zivilisation, die auf dem Grab des Gottes errichtet wurde, den sie selbst getötet hatte und aus der daraus folgenden »narzistischen Ohnmacht« in den »narzistischen Allmachtswahn« geflüchtet ist, was der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter sehr treffend als den »Gotteskomplex« bezeichnet hat.
Unser Lebensstil ist nicht enkeltauglich
Doch dieser Gotteskomplex trug von Beginn an den Keim des Scheiterns in sich. Was wir gerade sozusagen in Echtzeit erleben, könnte das »Ende der Geschichte« sein; aber nicht so, wie es sich der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1992 vorgestellt hatte: Er glaubte, ausgehend von Hegels Philosophie, noch an den endgültigen Sieg des Westens mit Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft. Doch zumindest was unser Wirtschaftssystem betrifft, ist die Unterscheidung zwischen Ost und West und Nord und Süd inzwischen obsolet geworden. Fast alle Staaten dieser Welt haben unsere zerstörerische Art des Wirtschaftens übernommen, gerade weil sie so erfolgreich ist. Aber es ist leicht erfolgreich zu sein, wenn der Erfolg das Resultat der gnadenlosen Ausbeutung sowohl von Menschen als auch unserer natürlichen Ressourcen ist.
Heute stehen wir vor den zum Teil fragwürdigen Errungenschaften dieser Zivilisation und spüren, dass viele mühsam von uns errichteten Bauwerke bereits zu Kulissen geworden sind. Langsam wird uns auch bewusst, dass die Natur zurückfordert, was wir ihr genommen haben. Denn in Wahrheit haben wir, spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auf Kredit gelebt und jetzt werden die Zinsen fällig, die wir kaum mehr werden bezahlen können. Niemand kann noch ernsthaft daran zweifeln, dass unser kapitalistisches Wirtschaftssystem neoliberaler Ausprägung nicht überlebensfähig und schon gar nicht enkeltauglich ist. Es geht buchstäblich über Leichen, zehrt seine eigenen Voraussetzungen auf und hat in Verbindung mit einem hyperkonsumtiven Lebensstil zu einer Zerstörung unserer natürlichen Mitwelt geführt, die alle bisherigen Dimensionen sprengt.
Eng mit diesem Wirtschaftssystem verbunden ist unser technischer Fortschritt, der aber oftmals nur noch ein Schritt fort von den Menschen und ihren wahren Bedürfnissen ist und fortwährend neue Probleme gebiert, die anschließend mit noch mehr Technik gelöst werden sollen. Noch vor Kurzem sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier, er würde in Anbetracht des Klimawandels »auf die Genialität unserer Ingenieure setzen.« Das ist so, als würde der Kapitän der Titanic nach der Kollision mit dem Eisberg darauf vertrauen, dass noch rechtzeitig ein Trupp von Handwerkern eintrifft, um den aufgerissenen Schiffsrumpf zu reparieren. Es wäre damals eine lächerliche Illusion gewesen und ist es heute noch viel mehr.
Doch auch unsere Demokratie und ihre zentralen Organisationen werden nicht überleben, wenn wir nicht endlich damit anfangen, sie radikal zu modernisieren. Das beinhaltet vor allem, die unsägliche Verflechtung von Politik und Wirtschaft zu überwinden. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der nach dem Ende seiner politischen Karriere in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank wechselte, ist da nur ein bezeichnendes Beispiel von vielen. Aber auch die Finanzkrise von 2008/2009 und der politische Umgang mit ihr, hat der Demokratie einen kaum wiedergutzumachenden Schaden zugefügt. Ausgelöst durch gierige, skrupellose und kriminell agierende Manager sowie unseriöse Geschäftsmodelle wurden die zusammenbrechenden Banken mit Milliarden von Steuergeldern gerettet. Es ist leider nur allzu wahr: Gewinne werden privatisiert, Schulden sozialisiert.
Die Demokratie neu zu erfinden heißt aber auch und vor allem, sie in jeder Hinsicht demokratischer und gerechter zu machen. Der Philosoph Bernward Gesang hat in seinem aktuellen Buch Mit kühlem Kopf die zentralen Schwächen der jetzigen Demokratien aufgelistet: »Mangelndes Wissen, mangelnde Qualifikation, die Anreize im System sind kurzfristig und populistisch, ein moralisch nicht zu rechtfertigendes, national und temporal verkürztes Verständnis von Allgemeinwohl sowie die Abhängigkeit von Lobbys.« Dazu kommt das Fehlen eines Anwalts für die Zukunft, der auch die Rechte der noch nicht geborenen Generation vertritt. Noch weiß niemand, wie diese Transformation der Demokratien – noch dazu vor dem Hintergrund eines zerfallenden Europas – gelingen könnte. Aber dass sie bei Strafe ihres Untergangs gelingen muss, steht außer Frage.
Die alten Begriffe haben keine Bedeutung mehr
So bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir machen so weiter wie bisher, dann wird sich unsere Zivilisation »by disaster« derart zum Schlechten verändern, dass wir sie kaum mehr wiedererkennen werden. Oder wir transformieren sie »by design« in etwas Besseres, Zukunftsfähiges und somit fundamental Neues, so dass auch dieses Neue nichts oder nur noch sehr wenig mit unserer jetzigen Kultur zu tun haben wird. Was auch immer geschieht: Diese Kultur, so wie wir sie kennen, wird schon bald Geschichte sein. Wie das Ergebnis dieser Transformation aussehen wird, wissen wir noch nicht. Aber wir müssen und sollten damit beginnen, uns eine Zukunft vorzustellen, in der viele unserer jetzigen Werte und Gewohnheiten nichts mehr bedeuten. Eine Zukunft, für die wir noch keine Begriffe haben und wir uns aus diesem Grund auch nicht vorstellen können, wie sie im Detail aussehen könnte. Aber was ihre Folgen anbelangt, wird diese Transformation ähnlich gravierend sein, wie der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit in der sogenannten neolithischen Revolution vor zirka zehntausend Jahren.
Eine Welt, in der die alten Begriffe nicht mehr gelten. So muss es dem Volk der Crow gegangen sein, als sie Mitte des 19. Jahrhunderts erkennen mussten, dass ihre Gesellschaft und ihre Art zu leben keine Zukunft mehr hat. Wie andere Indianerstämme auch, bekamen sie ein Reservat zugewiesen, dessen Fläche im Laufe der Jahre immer weiter reduziert wurde. Dadurch entfielen auch alle Auseinandersetzungen um Territorien mit gegnerischen Stämmen, die das Leben der Crow geprägt hatten. So verloren durch den Wegfall des kulturellen Kontextes viele Handlungen ihren Sinn. War früher das Stehlen der Pferde des verfeindeten Stammes noch ein selbstbewusster und mutiger Akt eines Kriegers, für den er gefeiert wurde, so reduzierte sich diese Handlung unter den neuen Bedingungen zu einem lediglich kriminellen Akt des Diebstahls. Die Crow verstanden buchstäblich die Welt nicht mehr.
Der Traum des Häuptlings
Doch im Angesicht des drohenden Untergangs hatte ein junger Crow, ihr späterer Häuptling »Plenty Coups« einen Traum, der ihm und seinem Volk den Weg weisen sollte. In diesem Traum wird dem Jungen zwar die Zerstörung seines Stammes offenbart, aber durch das im Traum erscheinende Bild der Meise und ihrer Tugenden den Crow eine Möglichkeit des kulturellen Überlebens eröffnet:
»Sie ist ihresgleichen der Stärke nach unterlegen; dem Geiste nach ist sie jedoch allen anderen weit voraus. Sie ist bereit, Anstrengungen auf sich zu nehmen, um Weisheit zu erlangen. Die Meisenperson ist eine gute Zuhörerin. Nichts entgeht ihren Ohren, die sie durch steten Gebrauch geschult hat. Immer, wenn andere von ihren Erfolgen und Niederlagen sprechen, wirst Du dort auch die Meisenperson antreffen, die ihren Worten aufmerksam folgt. Doch während sie zuhört, kümmert sie sich dennoch nur um ihre eigenen Angelegenheiten. […] Erfolge erringt sie und Niederlagen wendet sie ab, indem sie Kenntnis darüber erlangt, wie andere siegten oder versagten, und dabei muss sie selbst sich keinem großen Ungemach aussetzen.«
Auch wenn der Traum an einigen Stellen dunkel bleibt, eröffnet er den Crow das, was der amerikanische Philosoph Jonathan Lear die »radikale Hoffnung« nennt. Die Hoffnung darauf, eines Tages unter veränderten Bedingungen als Crow wieder aufzuerstehen, wenn sie die Tugend der Meise übernehmen. Anstatt also im Kampf gegen die Weißen unterzugehen, entschließen sich die Crow, die Realität zu akzeptieren und das Beste aus ihr zu machen. Auch wenn sie noch nicht genau wissen, wohin sie ihr Weg führen wird. Doch, »wenn man auf die richtige Weise zuhört und von anderen lernt – selbst unter ganz neuartigen Bedingungen und selbst noch angesichts des Zusammenbruchs der eigenen Welt -, wird daraus etwas Gutes hervorgehen.« Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass die Crow mit ihrer Strategie erfolgreich waren. Sie haben nicht nur physisch, sondern, unter veränderten Bedingungen, auch kulturell überlebt. Sie sind, so Lear, den »traditionellen Weg nach vorne« gegangen.
Mut als Fähigkeit, die Risiken des Lebens auf sich zu nehmen
Sich der Realität des Untergangs der eigenen Kultur zu stellen ist ein mutiger Akt. Denn er setzt die Akzeptanz des Leidens voraus und ist gleichzeitig die Fähigkeit, »gut mit den Risiken zu leben, die zwangsläufig das menschliche Dasein begleiten.« So gesehen sind wir eine a-pathische Gesellschaft im ursprünglichen Sinn des Wortes, da wir mit allen Mitteln versuchen, das Leiden zu vermeiden. Und wir sind eine feige Gesellschaft, weil wir nicht willens sind, den neuen Realitäten ins Auge zu sehen. Das zeigt sich gerade auch in der sogenannten Corona-Krise. Die Mehrheit der Menschen möchte möglichst schnell zum Vor-Corona-Zustand und der damit verbundenen Lebensweise zurückkehren. Doch zum einen haben wir mit dieser Lebensweise und den damit verbundenen destruktiven Praktiken überhaupt erst die Voraussetzungen für eine solche Pandemie geschaffen. Und zum anderen ist es genau diese Lebensweise, die unsere Zivilisation an den Rand des Abgrunds führt; und wie es aussieht, auch darüber hinaus.
Eines unserer zentralen Probleme heißt Angst. Und was ist angstbesetzter als Veränderung und eine Zukunft, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussehen wird? Wir erleben gerade in Amerika, und zunehmend auch hier, die immer tiefergehende Spaltung der Gesellschaft. Wir haben in vielen Bereichen aufgehört, ernsthaft miteinander zu reden. Viele haben sich in ihrer ideologischen Stellung eingegraben, aus Angst davor, sich und ihre Positionen in Frage stellen zu lassen. Doch wo keine Kritik mehr möglich und der Kritisierte nicht grundsätzlich dazu bereit ist, seine Meinungen zu überdenken, fängt es an, totalitär zu werden. In diesem Zusammenhang schreibt Lear: »Wir scheinen uns einer geteilten Verletzlichkeit bewusst zu sein, die wir nicht ganz benennen können. Ich vermute, dass dieses Gefühl auch die weitverbreitete Intoleranz hervorgerufen hat, die wir heutzutage um uns herum sehen – von allen Punkten des politischen Spektrums her. Es ist so, als ob ohne unser Beharren auf der Richtigkeit unserer Perspektive auch diese Perspektive selbst zusammenbrechen könnte. Wenn wir unserem geteilten Gefühl der Verletzlichkeit einen Namen geben könnten, wäre es uns vielleicht auch möglich, besser mit ihm zu leben.«
Der Mut zu träumen
Lears Buch Radical Hope. Ethics in the Face of Cultural Devastation erschien bereits im Jahr 2006. Dass der Suhrkamp Verlag sich entschieden hat, jetzt eine deutsche Übersetzung auf den Markt zu bringen, kann kaum ein Zufall sein. Denn dieses Buch liest sich wie eine Allegorie auf unsere Zeit. Wir und unsere Kultur werden nur überleben, wenn wir den Untergang dieser Kultur mit ihren selbstzerstörerischen Praktiken akzeptieren und anfangen, uns und unsere Lebensweise radikal neu zu denken. Da wir noch keine genaue Vorstellung davon haben, wie diese neue Kultur aussehen könnte, ermutigt uns Lear zum Träumen: »Im Angesicht einer solchen kulturellen Herausforderung erweist sich das Träumen als außergewöhnliches Hilfsmittel. Es setzt die Träumenden instand, sich eine radikal neue Zukunft vorzustellen, ohne allzu detailliert darauf einzugehen, wie genau sich diese Zukunft gestalten wird.«
Es ist aber gerade unsere Fähigkeit zu träumen, die uns weitestgehend abhandengekommen ist. Wenn die Fridays for Future – Bewegung, so beeindruckend und wichtig sie auch ist, dauernd dazu aufruft, sich hinter der Wissenschaft zu vereinen, offenbart das nur den eklatanten Mangel, sich eine grundsätzlich andere Welt jenseits des empirisch Verifizierbaren vorzustellen. So bleiben wir Gefangene eines langweiligen und jeder Hoffnung beraubten Denkens des rein Faktischen und werden zwangsläufig scheitern. Wir werden uns und unsere Kultur auf längere Sicht nur bewahren, indem wir uns mutig, kreativ und fantasievoll den kommenden Veränderungen stellen und »alles tun, was in unserer Macht steht, um unsere Vorstellungskraft für radikal andersartige zukünftige Möglichkeiten zu öffnen.«
Jonathan Lear: Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 236 Seiten, 28 Euro