Im letzten Jahr haben zirka 900 000 Menschen in Deutschland den beiden christlichen Kirchen den Rücken gekehrt. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von der Kirchensteuer über die Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen bis zu den Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche. So sind bereits heute weniger als die Hälfte der Deutschen noch konfessionell gebunden. Sollten sich die Austrittszahlen auch in Zukunft auf diesem Niveau bewegen, wird die Kirche in den nächsten Jahrzehnten – zumindest in Deutschland – marginalisiert sein und weder gesellschaftlich noch politisch eine nennenswerte Rolle spielen. Für viele mag das eine gute Nachricht sein, doch Hartmut Rosa zeigt, warum es wenig Grund gibt, sich darüber zu freuen.

Das Buch basiert auf einem Vortrag, den der Autor 2022 beim Würzburger Diözesanempfang gehalten hat. Der Linken-Politiker Gregor Gysi – nach eigener Aussage selbst Atheist – hat das Vorwort verfasst und stellt fest, dass »zur Zeit nur die Religionen wirklich in der Lage [sind], grundlegende Moral- und Wertvorstellungen allgemeinverbindlich in der Gesellschaft prägen zu können«. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis für einen marxistisch geprägten Politiker, der davon ausgehen muss, dass die Religion lediglich den Überbau spezieller gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen darstellt und automatisch verschwindet, sobald jene sich bis zu einer gewissen Höhe entwickelt haben. Ansonsten trägt das Vorwort nur wenig zum Thema bei und soll wohl in erster Linie der Verkaufsförderung dienen. Da es sich inzwischen um die achte Auflage handelt, scheint es sein Ziel erreicht zu haben. Aber auch so hätte das Buch mit Sicherheit seine Leserinnen und Leser gefunden. Denn Hartmut Rosa ist ein interessanter Denker, der mit seinem 2016 erschienenen Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung bereits für einiges Aufsehen gesorgt hat.

Der rasende Stillstand des Kapitalismus

(Cover: Kösel Verlag)

Für Rosa liegt das größte Übel unserer Zeit in der Wachstums- und Steigerungslogik des Kapitalismus. Denn »wenn eine Gesellschaft gezwungen ist, sich permanent zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben, aber den Sinn der Vorwärtsbewegung verliert, dann ist sie in einer Krisensituation.« Die grundlegende Struktur der modernen Gesellschaft ist, so Rosa, am treffendsten mit dem Begriff der »dynamischen Stabilisierung« beschrieben. Das heißt, eine solche Gesellschaft muss sich permanent steigern und Wachstum generieren, »um sich zu reproduzieren und den institutionellen Status Quo zu erhalten.« Es ist das alte Bild des Kapitalismus vom Fahrrad, das umfällt, wenn es stillsteht. In diesem Wachstumszwang sieht Rosa die eigentliche Problematik, da wir Jahr für Jahr immer mehr Energie und Kraft aufwenden müssen, nur um das Bestehende zu erhalten. Ein irrationales und bisher noch nicht dagewesenes System.

Es ist diese Steigerungslogik, die, davon ist Rosa überzeugt, ein »Aggressionsverhältnis zur Welt« stiftet. Und Aggression wäre weder für eine gelingende Kommunikation noch für die Demokratie eine gute Basis. Denn diese ist ohne jene nicht vorstellbar. So würde der andere nicht mehr als Dialogpartner wahrgenommen, sondern nur noch als Feind, den es zu bekämpfen gilt. Spätestens seit der Corona-Pandemie wissen wir, wie richtig er mit dieser Analyse unserer Gesprächs(un)kultur liegt. Jeder, der sich hier nur minimal vom Mainstream entfernte, wurde abqualifiziert, nicht selten auf persönlicher Ebene (Covidiot, etc.) und damit aus der Gruppe ernst zu nehmender Gesprächspartner ausgeschlossen. Die Pandemie war dafür nicht die Ursache, sondern hat lediglich ein schon länger existierendes Problem in seiner ganzen Deutlichkeit offenbart: Jeder äußert zwar seine Meinung, aber niemand hört mehr zu. Die Diskussion um den Krieg in der Ukraine zeigt eine ähnliche Problematik. Wer die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert, was innerhalb einer Demokratie das gute Recht eines jeden ist, wird zum »Lumpenpazifisten« (Sascha Lobo) und »Putinversteher«. Das ist eine Sprache, die einer Demokratie unwürdig ist. In einer demokratischen Gesellschaft sollte nicht gegeneinander gekämpft, sondern miteinander gestritten werden. Das ist ein fundamentaler Unterschied!

Wir brauchen ein »hörendes Herz«

So plädiert Rosa für ein republikanisches Verständnis von Demokratie, das die Bereitschaft fordert, sich vom anderen erreichen zu lassen und davon ausgeht, »dass durch dieses wechselseitige Erreichen wechselseitige Transformation stattfindet«. Was wir in diesem Zusammenhang brauchen, so der Autor, wäre ein »hörendes Herz«. Hier bezieht sich Rosa auf einen Text im Alten Testament, in dem der junge König Salomo Gott bittet, ihm ein hörendes Herz zu verleihen, damit er das Volk regieren und das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Und Gott gewährt ihm seine Bitte, da er nicht um ein langes Leben, Reichtum oder andere irdische Güter, sondern um Einsicht gebeten hat. An dieser Stelle sieht Rosa gerade die Kirchen in der Pflicht, da diese über ein »kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.«

Für Rosa ist es außerdem die zentrale Aufgabe und zugleich die grundlegende Fähigkeit von Religion, »eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende« aufzuzeigen. Sie gibt den Menschen als Gegensatz dazu »eine Art vertikales Resonanzversprechen«, was nichts anderes heißt, als dass »am Grund meiner Existenz nicht das schweigende Universum, ein kalter Mechanismus, der nackte Zufall oder gar ein feindliches Gegenüber liegen, sondern dass dort eine Antwortbeziehung steht.«

Das heißt, ich kann Gott im Gebet ansprechen und werde selbst von ihm angesprochen, wenn auch auf eine außersprachliche Art und Weise. Hartmut Rosa geht es darum zu zeigen, dass diese Resonanzbeziehung, in der alle gläubigen Menschen stehen, ein gutes Modell für gelingende Kommunikation sein könnte. Hier geht es nicht darum, Recht zu behalten, Macht auszuüben oder den anderen abzukanzeln, sondern ihn zuallererst grundsätzlich anzunehmen. Nur so, in dem Versuch, den anderen zu verstehen und ihn in seinem Anderssein anzuerkennen, ist Transformation überhaupt nur möglich. Aus dieser Sicht lässt sich Demokratie gar nicht anders denken, als eine Gemeinschaft von Menschen, die über diese Fähigkeit verfügen und sie auch praktizieren. Sie müssen deshalb nicht gleich religiös werden, aber die Kirche bleibt, das ist Rosas Überzeugung, wie keine andere Institution geeignet, diese Fähigkeit zu vermitteln und bildet damit einen Pfeiler, auf dem diese Demokratie ruht. Wir täten gut daran, ihn nicht abzureißen.

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Kösel Verlag 2022, ISBN-13: 9783466373031

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

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