Dass der Kapitalismus seinem unvermeidbaren und darüber hinaus verdienten Ende entgegen geht, pfeifen mittlerweile die Spatzen von den Solardächern. Er war von Beginn an eine kannibalische Welt(un)ordnung, die immensen Reichtum für vergleichsweise wenige und bodenlose Armut für viele produziert hat. Es ist ein Wirtschaftssystem, das zunehmend unsere Lebensgrundlagen zerstört, die Menschen ihrer Produktionsmittel beraubt, sie entwurzelt und entsolidarisiert. Das immer wieder bemühte Narrativ, der Kapitalismus würde automatisch die Demokratie im Schlepptau führen, wurde spätestens durch den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas widerlegt. Kapitalismus funktioniert auch ganz hervorragend ohne Demokratie. Mittlerweile scheint es eher so zu sein, dass sich der Kapitalismus zu einer zunehmenden Bedrohung für die Demokratie entwickelt. Hierfür stehen Unternehmen wie Google, Amazon, Meta (ehemals Facebook), Apple und Microsoft (GAMAM), die ungeheuer mächtig geworden sind und auf dem besten Weg, die Demokratien in oligarchische Algokratien zu verwandeln.

Der Kapitalismus als Hauptursache der Klimakatastrophe

Bis vor Kurzem noch war Saito ein weitestgehend unbekannter Professor für Philosophie, der heute an der Universität Tokio lehrt. Schon in seiner Promotion, die er im Jahr 2016 an der Berliner Humboldt-Universität abschloss, hat er sich eingehend mit Karl Marx beschäftigt und fungiert auch als Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Systemsturz mit dem Untertitel Der Sieg der Natur über den Kapitalismus erschien bereits im Jahr 2020 und entwickelte sich in Japan schnell zu einem Bestseller. Umso erstaunlicher ist es, dass es drei Jahre gedauert hat, bis endlich eine deutsche Übersetzung auf den Markt kam. Ob dieses Buch auch hier auf vergleichbares Interesse stößt, bleibt abzuwarten.

Saito weist überzeugend nach, dass die Schaffung von Mangel eine Grundvoraussetzung des kapitalistischen Systems ist. Mangel stellt somit nicht etwa ein vorübergehendes Phänomen dar, das eines Tages überwunden sein wird, wie man uns seit jeher glauben machen möchte. Er ist nicht weniger als der Motor des Kapitalismus. So sind »sich verschlechternde Lebensbedingungen im globalen Süden […] eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus, und das Verhältnis von Dominanz und Unterordnung zwischen Nord und Süd ist keine Ausnahme, sondern kapitalistischer Normalbetrieb.« Darüber hinaus lebt dieses System von der Plünderung sämtlicher Ressourcen dieses Planeten, wie auch von der Ausbeutung gerade derjenigen, die am wenigsten dazu in der Lage sind, sich der kapitalistischen Megamaschine zu entziehen oder sich ihr gar entgegenzustellen. Der Kapitalismus ist, so Saito, eine Hauptursache der Klimakatastrophe und lebt zunehmend auf Kosten der kommenden Generationen. Wenn Saito von Kapitalismus spricht, klingt es oftmals so, als handelte es sich um ein von den Menschen losgelöstes und autonom agierendes System. Das ist selbstverständlich nicht so. Hinter all dem stehen immer die individuellen Entscheidungen und Handlungen konkreter Menschen.

Schon auf der ersten Seite wendet sich Saito gegen den Glauben, wir könnten durch eine Veränderung unseres individuellen Konsumverhaltens etwas gegen den Klimawandel tun. Er hält das für eine gefährliche Illusion, da es die Menschen davon abhält, dieses System als Ganzes infrage zu stellen. Das Gleiche gelte für die Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannten SDGs (Sustainable Development Goals) der Vereinten Nationen, die für Saito auch nur Alibifunktion besitzen. Außerdem wendet er sich vehement gegen den sogenannten Green New Deal, der lediglich den ökologischen Umbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems propagiert, aber ansonsten alles so lassen möchte wie bisher. In Wahrheit, so Saito, würde ein grünes Wirtschaftswachstum nur die weitere »Auslagerung der gesellschaftlichen und natürlichen Unkosten in die Peripherie« bedeuten. So wäre der Green New Deal nichts anderes als die Fortschreibung der gegenwärtigen kapitalistischen Externalisierungsgesellschaften.

Der Degrowth-Kommunismus des späten Marx

Die Behauptung, wir könnten das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppeln, entlarvt Saito als Lüge. Genau wie das Versprechen einer angeblich nachhaltigen Zukunft durch den Green New Deal, ist auch diese These bereits vielfach einer eingehenden Kritik unterzogen worden. Unter anderem von Niko Paech, einem der wenigen deutschen Postwachstumsökonomen. So lehnt Saito sämtliche Degrowth-Konzepte innerhalb des kapitalistischen Systems ab, denn für ihn kann es zwischen Kapitalismus und Degrowth keinen Kompromiss geben. Saito sieht nach dem Scheitern des Kapitalismus vier mögliche Szenarien, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte. Drei davon sind wenig erstrebenswert: Der Klimamaoismus als zentralistische Diktatur, der Klimafaschismus als Krieg der Superreichen und der Regierung gegen das Volk und zuletzt die Barbarei, wie Thomas Hobbes sie verstanden hat: als Krieg aller gegen alle.

Im Spätwerk von Marx glaubt Saito allerdings, einen Ausweg aus diesen Schreckensszenarien gefunden zu haben: den Degrowth-Kommunismus. Durch die Sichtung vieler bis jetzt wenig bekannter Aufzeichnungen ist sich Saito sicher, dass Marx sich in seinen späten Jahren von grundlegenden Prinzipien seiner Philosophie verabschiedet hat. Dazu gehört der Glaube an den Kapitalismus als notwendiges Übergangsstadium sowie der Glaube an eine progressiv und unilinear sich entwickelnde Geschichte. Diese Vorstellung hatte Marx bekanntlich von Hegel übernommen, allerdings nicht, ohne sie vorher vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben.

Die Rekonstruktion der Commons

Marx hätte erkannt, dass der kapitalistische Produktionsprozess die Natur zerstört und deshalb keine Stufe auf dem Weg zum Kommunismus sein könne. So stünden im Zentrum der späten marxschen Ideen die sogenannten Commons (Gemeingüter). Commons sind gemeinschaftlich verwaltete Güter wie Wohnraum, Wasser, Strom, Gesundheitsversorgung, Bildung und Produktionsmittel aller Art. »Soll heißen, der Weg zur Wiederherstellung des Überflusses führt über die Rekonstruktion der Commons. Sie sind das Instrument, das den Kapitalismus überwinden und den radikalen Überfluss im 21. Jahrhundert verwirklichen wird.« Saito tritt somit, ähnlich wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, für einen partizipativen Sozialismus ein und kritisiert Vorschläge, die dahin gehen, eine Veränderung der Gesellschaft mittels »politizistischen Top-down-Reformen« zu bewirken. Er plädiert vielmehr für Arbeitergenossenschaften und Bürgerräte, wie sie inzwischen auch von Bewegungen wie die Letzte Generation gefordert werden. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass Bürgerräte zwar ein wichtiges Instrument sind, um zur »notwendigen Verflüssigung des politischen Betriebs« beizutragen, aber niemals den Parlamentarismus ersetzen können. So sieht er die Forderungen nach einem Gesellschaftsrat, wie sie die Letzte Generation erhebt, kritisch »weil sie erstens der Idee folgen, dass Wissenschaft Politik nicht informieren, sondern leiten sollte und zweitens von der irrigen Annahme ausgehen, dass ein solcher Rat schon das Richtige beschließen würde.«

Saito möchte darüber hinaus »offene«, statt »verriegelte« Technologien. Begriffe, die auf den Sozialphilosophen André Gorz zurückgehen, ursprünglich aber von Ivan Illich in die Diskussion eingebracht wurden und dort konvivial bzw. heteronom heißen. Unter »offenen Technologien« verstand Gorz diejenigen, »die die Kommunikation, die Kooperation, die Interaktion begünstigen wie das Telefon oder heute die freien Netze und Softwares. Die ›verriegelten Technologien‹ sind solche, die den Benutzer knechten, seine Operationen programmieren, das Angebot eines Produkts oder einer Dienstleistung monopolisieren.« Verriegelte Technologien unterliegen in der Regel nur einer unzureichenden oder gar keiner demokratischen Kontrolle, mit allen damit einhergehenden Problemen. Ein Beispiel hierfür wäre die Atomkraft, aber auch die Gentechnik könnte man ohne Weiteres dazu zählen. Es ist im Übrigen wieder lohnend, sich mit den genannten Denkern zu beschäftigen. Auch Autoren der Frankfurter Schule wie Herbert Marcuse, Theodor Adorno, Max Horkheimer oder Erich Fromm waren vielleicht noch nie so aktuell wie heute. Dass eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts, die Dialektik der Aufklärung, im letzten Jahr neu aufgelegt wurde, ist dabei sicher kein Zufall. Aber das nur am Rande.

Basisdemokratische Transformation?

Ganz wesentlich für Saito ist die Betonung des Gebrauchswertes vor dem Tauschwert. So soll in einer degrowth-kommunistischen Gesellschaft nur das produziert werden, was wirklich benötigt wird. Werbung gäbe es in einer solchen Wirtschaft aus gutem Grund nicht. Es gilt, »mit dem Konsumismus, wie wir ihn heute kennen, zu brechen, die Produktion zum Wohle aller auf nötige Dinge umzustellen und sich gleichzeitig in Selbstbegrenzung zu üben. Das ist der Kommunismus, den wir im Anthropozän brauchen.« Ein Kennzeichen dieser Gesellschaft wäre auch eine größere Wertschätzung gegenüber den Berufen, die über maximalen Gebrauchswert verfügen. Saito nennt hier die sogenannte Care-Arbeit.

Am Ende geht es Saito darum, »die Erde als nachhaltiges Common von der Verwertungsmaschinerie des Kapitals zurückzufordern.« Die Frage bleibt, wie sich der Übergang hin zu einer solchen commonsbasierten Wirtschaft vollziehen könnte. Saito glaubt hier an eine Art Graswurzelbewegung, also an eine basisdemokratische Transformation der Gesellschaft, die seiner Ansicht nach bereits begonnen hat. Denn an vielen Orten dieser Welt gebe es unzählige Initiativen, die daran arbeiten, die Kontrolle über die Commons wiederzuerlangen. Das ist sicher richtig und macht Hoffnung, aber es wäre dennoch naiv zu glauben, die Profiteure dieses Systems würden sich widerstandslos ihre Privilegien nehmen lassen. Transformation? Im besten Fall. Revolution? Wohl schon eher.

Wie auch immer: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus eine auf Gemeingütern basierende Wirtschaft sein muss. Die Menschen müssen wieder die Kontrolle über die jeweiligen Produktionsprozesse gewinnen. Die Commons dürfen nicht länger das Eigentum einiger weniger sein, die damit Milliardengewinne generieren, während der Großteil der Menschheit leer ausgeht. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es für diese Erkenntnis notwendig ist, sich auf das Spätwerk von Marx zu berufen. Denn viele Denker und Denkerinnen nach ihm haben die Idee der Gemeingüter ganz unabhängig von Marx entwickelt. So sagt Saito zwar sehr viel Richtiges und Brauchbares, aber am Ende nichts wesentlich Neues. Möglicherweise gelingt es ihm mit diesem Buch aber, den lange geschmähten Marx ins 21. Jahrhundert zu holen und wieder Interesse an ihm zu wecken. Ein Stück weit rehabilitiert hat er ihn schon mal.

Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. dtv Verlagsgesellschaft 2023, ISBN-13: 9783423283694

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

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