Den Meisten der heute unter Dreißigjährigen dürfte der Name Hoimar von Ditfurth nichts mehr sagen und doch war der 1989 gestorbene Mediziner, Wissenschaftsjournalist, Philosoph und Autor mehrerer Bestseller eine der herausragenden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit, der durch seine Bücher und Wissenschaftssendungen (Querschnitte) eine ganze Generation geprägt hat.
Der einzig noch lieferbare Titel war bis jetzt sein 1972 erschienenes Buch Im Anfang war der Wasserstoff, in dem von Ditfurth die Geschichte des Universums von den Anfängen bis zur Entstehung des Lebens nachzeichnet und darüber hinaus den Versuch macht, eine mögliche Zukunft zu beschreiben. Jetzt gibt es mit der Neuauflage seines letzten, kurz vor seinem Tod erschienenen, autobiographischen Werkes Innenansichten eines Artgenossen die Möglichkeit, etwas über das Leben dieses umfassend gebildeten Denkers zu erfahren.
Das Leben in den Facetten der Wissenschaften
Doch diese Autobiographie, die den vielsagenden Untertitel Meine Bilanz trägt, ist mehr als die Beschreibung seines Lebens. Denn das wirklich Ungewöhnliche an diesem Buch ist die gekonnte Vermischung von biographischen, persönlichen und historischen Details mit wissenschaftlicher, beziehungsweise philosophischer Reflexion. Das deutet sich schon in den Kapitelüberschriften an, wie Weimar – Hirnentwicklung oder Naziregime – Weltbilder. So beginnt Ditfurth seine Biographie mit einer nüchternen Beschreibung seiner Geburt in Berlin am 15. Oktober 1921: »Zu Beginn des Tages gab es mich noch nicht, am Abend des 15. aber war ich vorhanden«, um ein paar Sätze später bereits das Problem der Willensfreiheit zu erörtern. Diese Vielschichtigkeit durchzieht das gesamte Buch und so weiß der Leser am Ende der knapp sechshundertseitigen Lektüre nicht nur eine ganze Menge über die geschichtliche Situation dieser Zeit und das Leben eines außergewöhnlichen Autors, der schon immer mehr war als »nur« ein Wissenschaftsjournalist, sondern bekommt ganz nebenbei einen tiefen Einblick in wissenschaftliche, philosophische und auch politische Fragen geliefert.
Was Ditfurth darüber hinaus auszeichnet, ist die Ehrlichkeit, mit der er seine eigene Sozialisation in einem nationalistisch-konservativen Elternhaus vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus beschreibt. Es ist ein Elternhaus, das unter der Niederlage des ersten Weltkrieges litt und für das Frankreich und das »rote Pack« den größten Feind darstellte. Dieser Mann, dessen Kopf während seiner Kindheit nach eigener Aussage vom »Gift des Nationalsozialismus« durchtränkt war und der davon träumte, »Menschen (Franzosen) in Serie totschießen zu können«, wandelte sich nach dem Krieg zum überzeugten Pazifisten. Anfang der Achtzigerjahre wurde er Mitglied der Partei »Die Grünen« und immer mehr zum ökologischen Gewissen und zu einer moralischen Instanz in Deutschland. Dieser Wandel ist neben seinen anderen Verdiensten vielleicht die größte seiner Leistungen.
Auch in diesem Buch ist eines von Hoimar von Ditfurths wichtigsten Themen die Evolution und damit zusammenhängend die Entwicklung unseres Verstandes oder Erkenntnisapparates. Seine philosophische Heimat fand er dabei in der »evolutionären Erkenntnistheorie«, als deren Begründer der österreichische Verhaltensforscher Konrad Lorenz gilt. Ditfurth wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass wir bisher nur einen Bruchteil der Wirklichkeit erfassen können. Das weitaus Meiste läge außerhalb unserer Erkenntnisfähigkeit und ist in gewissem Sinne für uns transzendent. Diese Form der Transzendenz, als das noch nicht Erkannte, stellt für den Autor nicht zuletzt auch einen Zugang zur Metaphysik dar.
Die Grenzen unseres Wissens
Und so wendet sich von Ditfurth im letzten Kapitel noch einmal einem Thema zu, das ihn ein Leben lang beschäftigt hat: Die Versöhnung von Naturwissenschaft und Religion. Dass ein durch und durch wissenschaftlich geprägter Autor, der einige Jahre im Entwicklungsbereich des Mannheimer Pharmakonzerns Boehringer beschäftigt war, den Mut hatte, sich auch diesem, innerhalb der Wissenschaften verpönten Thema zu widmen, zeichnet ihn bis heute vor vielen seiner Kollegen und Kolleginnen aus. Wie alle Großen hat auch er erkannt, »dass je eingehender man sich mit den Ergebnissen moderner naturwissenschaftlicher Forschung befasst, die Einsicht umso klarer wird, dass das, was wir unsere ›Welt‹ nennen, auf einem undurchdringlichen Geheimnis beruht. Dass sie aus sich selbst heraus nicht erklärbar ist. Dass es ›hinter‹ ihr […] eine uns verborgene Wirklichkeit gibt, von der wir nur etwas ahnen, aber nichts wissen können.«
Ditfurths Bücher sind oftmals eine merkwürdige Mischung aus Pessimismus, gerade im Hinblick auf die Überlebensfähigkeit der Spezies Mensch, und dem unausrottbaren Glauben, dass trotz aller Verirrungen dem Universum als Ganzem, wie auch dem menschlichen Dasein, ein Sinn innewohnt, auch wenn wir ihn nicht kennen. So macht auch seine Biographie in dieser Hinsicht keine Ausnahme, wenn er schreibt: »Denn dass aller kosmische Aufwand sich zum Schluss als sinnlos erweisen könnte und dass die Geschichte einer über Äonen hinweg nicht erlahmenden kosmischen Schöpfungskraft nichts anderes sein sollte als ein unüberbietbar gigantischer Leerlauf, das wäre denn doch wohl, bei Anlegung noch so erbarmungslos selbstkritischer Maßstäbe, die am wenigsten plausible Annahme von allen.«
Dieses Wissen um die grundsätzliche Sinnhaftigkeit unseres Daseins kann allerdings nicht genügen und »enthebt uns nicht der Notwendigkeit, die Gegenwart innerhalb der uns zugewiesenen Lebensspanne nach besten Kräften zu bewältigen.« Was im Epilog dieses Buches folgt, ist eine Aufforderung, die Gebote der Bergpredigt ernst zu nehmen, ohne dabei in eine naive Verkennung der Realitäten abzugleiten. Dies ist in Anbetracht der zunehmenden Unversöhnlichkeit und Aggressivität, in der sich Christentum und Islam heute gegenüberstehen, ein hoch aktueller Gedanke. Nach Ditfurth ist der Ausweg bereits in diesen alten Texten zu finden. »Der Versuch, ihn zu benutzen, ist noch niemals ernstlich unternommen worden. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, das Versäumnis nachzuholen.«
So ist dieses Buch auch die Bilanz eines Suchenden, dem das naturwissenschaftliche Weltbild allein nie genügte und der sich zeit seines Lebens darüber ärgerte, »dass mir zwar genug Gehirn in meinen Schädel gestopft worden ist, um zu entdecken, dass da ein unglaubliches Geheimnis die Grundlage unserer Existenz ist, aber dieses Stückchen eben mit Gewissheit nicht ausreicht, um mir die Antwort darauf zu geben, worin dieses Geheimnis besteht.«
Oftmals ist es aber schon viel, die richtigen Fragen gestellt zu haben.
Hoimar von Ditfurth: Innenansichten eines Artgenossen. Meine Bilanz. Geest Verlag 2013. Diese Rezension erschien ursprünglich im Januar 2014 auf kritische-ausgabe.de. Anlässlich seines einhundertsten Geburtstags am 15. Oktober 2021 erscheint diese Rezension noch einmal auf re-visionen.net.