Die Tierschutzorganisation PETA ist es, die Letzte Generation, die Proteste im Hambacher und Dannenröder Forst waren es, die Partei Die Linke soll es sein, ebenso wie die Omas gegen Rechts: radikal! Aber am Ende kann dieser Vorwurf jeden treffen, der sich gegen die herrschenden Strukturen und Praktiken dieser Gesellschaft wendet.
Die sogenannte »Mitte der Gesellschaft«
Das Adjektiv radikal hat seinen etymologischen Ursprung im lateinischen »radix«. Es bedeutet in etwa »bis auf die Wurzel zurückgehen«, »von Grund auf«, »gründlich«. Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der französischen Revolution, erfährt dieser Begriff seinen bis heute gültigen Wandel ins Politische und ist seither eher negativ konnotiert. Er bedeutet jetzt so viel wie »extrem«, »kompromisslos« und gegen die bestehende Ordnung gerichtet. Somit eignet er sich auch hervorragend als Totschlagbegriff gegenüber missliebigen Menschen oder Organisationen. Ist man erst einmal als radikal eingestuft, hat man sich aus der sogenannten »Mitte« der Gesellschaft verabschiedet. Nicht selten wird man aus den herrschenden Diskursen ausgeschlossen und in der Regel mit allen Mitteln bekämpft.
Der Vorwurf der Radikalität wird in der Regel von denen erhoben, die sich selbst als gemäßigt ansehen. Aber genau dieser vermeintlich gemäßigten Mitte der Gesellschaft entgeht, dass sie selbst tief in oftmals radikal auftretende soziale, ökonomische, gesellschaftliche und herrschaftliche Verhältnisse verstrickt ist, ohne diese hinreichend zu reflektieren. Würden die Vertreter und Vertreterinnen dieser »Mitte« sich die Mühe machen, ihren eigenen Standpunkt kritisch zu analysieren, müssten sie sich eingestehen, dass sie selbst auf keinem neutralen Boden stehen. Denn es ist ja gerade nicht so, dass die Grundlagen unserer Gesellschaft gemäßigter Natur wären. Und doch werden sie von der gesellschaftlichen »Mitte« in der Regel vorbehaltlos akzeptiert.
Dazu gehört vor allem die Tatsache, dass unser Wohlstand im Rahmen neokolonialer Strukturen durch die Ausbeutung von Menschen und der Natur zu großen Teilen andernorts und auf Kosten anderer erwirtschaftet wird. »Wir leben«, so hat es der Soziologe Stephan Lessenich treffend ausgedrückt, »nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen.« Die beiden Autoren Ulrich Brand und Markus Wissen haben für diese Praktiken den Begriff der »imperialen Lebensweise« geprägt. Diese sei »ein wesentliches Moment in der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften. Sie stellt sich über Diskurse und Weltauffassungen her, wird in Praxen und Institutionen verfestigt, ist Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat. Sie basiert auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft, mitunter auf Gewalt und bringt diese gleichzeitig hervor.« Die meisten von uns, gerade aus der gesellschaftlichen »Mitte«, nehmen das nicht nur stillschweigend hin, sondern befürworten diese Lebensweise in aller Regel, da sie ihnen wesentliche Vorteile und viele Annehmlichkeiten verschafft. Doch jeder Kauf eines SUV, jede Flugreise und jede Kreuzfahrt (um nur einige Beispiele zu nennen) ist ein aggressiver und radikaler Akt, der dazu beiträgt, diese Welt bis zum Ende dieses Jahrhunderts in Teilen unbewohnbar zu machen.
»Unsere Kultur ist eine Kultur des Todes«
Diese Praktiken von Macht, Herrschaft und Gewalt unserer Gesellschaft zeigen sich am deutlichsten in der Art und Weise, wie wir mit den Tieren umgehen. Jedes Jahr werden allein in Deutschland zirka 2,5 Millionen Tiere in Versuchslaboren für wissenschaftliche Zwecke missbraucht und zirka ein Viertel von ihnen getötet. Dazu kommen Millionen sogenannter Überschusstiere, für die es keine Verwendung gibt und die deshalb ebenfalls getötet werden. Auch im Zuge der Corona Impfstoffforschung wurden viele Experimente an Tieren durchgeführt. Laut dem wissenschaftlichen Fachmagazin Embo Reports, wurden allein in den ersten siebzehn Monaten der Pandemie 61 389 Versuchstiere für 102 Forschungsprojekte in Deutschland genehmigt. In anderen Ländern stellt sich diese Bilanz noch wesentlich schlimmer dar. Am 18. April 2021 rief der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bundesweit zu einem Corona-Gedenktag auf. Dass in diesem Zusammenhang die Tiere, die durch ihr Opfer erst die Herstellung des Impfstoffes ermöglicht haben, mit keinem Wort erwähnt wurden, sagt viel über das moralische Selbstverständnis einer Gesellschaft aus, die es vorzieht, sich nicht mit ihren destruktiven Praktiken und der damit verbundenen Schuld zu konfrontieren.
Und natürlich ist auch Jede Form der Massentierhaltung ein Symbol beziehungsweise ein Akt radikaler Missachtung des Lebendigen. In Deutschland liegt der jährliche Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch zurzeit bei zirka 52 Kilogramm. Hinter diesen 52 Kilogramm verbergen sich aber nicht irgendwelche wertlosen Dinge, sondern lebendige Wesen mit Bewusstsein und Gefühlen, die so wie wir auch ein Recht auf ein gutes Leben haben. Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2024 in den deutschen Schlachtbetrieben 48,7 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde sowie 693,3 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet. Diese Tiere werden innerhalb eines maschinell ablaufenden Prozesses nicht mehr als unsere mit Würde ausgestatteten Mitgeschöpfe betrachtet, sondern nur noch als genormte fleischgewordene Objekte unserer Gier innerhalb eines gnadenlosen kapitalistischen Systems der Ausbeutung und Gewinnmaximierung. Unsere Kultur, schreibt die französische Philosophin Corine Pelluchon, ist eine Kultur des Todes. »Sie gründet sich auf Mord, aber sie kann es sich nicht eingestehen.«
Im Jahr 2021 ist es einem internationalen Forscherteam um den spanischen Biochemiker Juan Carlos Izpisua Belmonte gelungen, Embryonen zu züchten, die sowohl aus menschlichen Zellen als auch aus Zellen von Affen bestehen. Diese Experimente dienen erst einmal dazu, besser zu verstehen, wie sich überhaupt Gewebe und Organe bilden. Doch auch wenn es vonseiten der betreffenden Wissenschaftler verneint wird, besteht das langfristige Ziel darin, in diesen Mischwesen Organe für den Menschen zu züchten. Das heißt, man wird in Zukunft Lebewesen als Brutstätten für menschliche Organe missbrauchen. Lebende Ersatzteillager für eine Gesellschaft, die das Lebendige zerstört und den Tod fürchtet, wie kaum eine Gesellschaft vor ihr.
Wirklich radikal ist nur das business as usual
Die Radikalität dieser Gesellschaft zeigt sich somit in Praktiken, deren destruktive Konsequenzen offensichtlich sind, aber konsequent ausgeblendet werden. Auch der Flugverkehr spricht hier eine eindeutige Sprache: 2024 starteten von deutschen Flughäfen fast eine Million Flüge. Die 22 deutschen Hauptverkehrsflughäfen haben dabei, so das statistische Bundesamt, rund 199,5 Millionen Fluggäste gezählt. Damit hat sich das Passagieraufkommen im Vergleich zu 2023 um 7,7 % erhöht. Die Emissionen dieses Sektors stiegen im Vergleich zu 2023 um vier Prozent. Obwohl nur schätzungsweise zehn Prozent der Weltbevölkerung fliegen, ist der Flugverkehr für fünf Prozent der globalen Erwärmung verantwortlich, mit stetig wachsender Tendenz.
Um die globale Temperaturerhöhung auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen, dürfen bis 2050 durchschnittlich erlaubte jährliche Pro-Kopf-Emissionen von rund 2,7 Tonnen CO2 nicht überschritten werden. So hat es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Budgetansatz aus dem Jahr 2009 festgelegt. Laut Umweltbundesamt liegt der Ausstoß an Treibhausgasen pro Person in Deutschland derzeit im Durchschnitt bei 10,3 Tonnen. Dass die CO2-Emmissionen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung bei weitem höher liegen, muss kaum extra betont werden. Nur nebenbei bemerkt: Ein Flug von Deutschland auf die Kanarischen Inseln und zurück verursacht pro Person einen Ausstoß von zirka 1,8 Tonnen CO2.
Warum tun wir all das? Weil wir uns vor dem Hintergrund der weitgehend unsichtbar gemachten Voraussetzungen unserer Weltanschauung schlicht und ergreifend das Recht dazu nehmen. So besteht unsere Gesellschaft zu großen Teilen aus Vertreterinnen und Vertretern einer radikalen und fundamentalistischen Ideologie, die derartige Praktiken nicht nur ermöglicht und erlaubt, sondern in der Regel auch noch fördert. Es geht hier nicht darum zu moralisieren, denn die genannten Probleme können am Ende nicht auf individueller, sondern nur auf politischer und gesellschaftlicher Ebene gelöst werden. Was nicht bedeutet, dass nicht jeder von uns durch sein Handeln die Dinge zum Besseren verändern kann und Verantwortung für die Konsequenzen seines Handelns trägt. Es sollte lediglich gezeigt werden, dass sich ein großer Teil unserer Gesellschaft, der sich selbst für gemäßigt hält, in Wahrheit einer radikalen Lebensweise verschrieben hat und diese Tatsache weitestgehend ignoriert beziehungsweise verschleiert.
Wer also in Zukunft den Vorwurf der Radikalität erhebt, sollte sich vorher sehr genau überlegen, von welchem Standpunkt aus er das tut. Denn radikal ist nicht zwangsläufig derjenige, der sich gegen die herrschenden Strukturen und Praktiken dieser Gesellschaft wendet und diese aufgrund ihrer offensichtlich destruktiven Konsequenzen infrage stellt, sondern eine Gesellschaft, die glaubt, ihr zerstörerisches Lebensmodell ohne wesentliche Veränderungen (business as usual) auch weiterhin fortsetzen zu können.
Dieser Artikel erschien am 24. April 2025 im FREITAG.
Foto: iStock