Vor fünfzig Jahren erschien The Politics of Experience (Phänomenologie der Erfahrung) des damals vierzigjährigen britischen Psychiaters Ronald David Laing. Zu diesem Zeitpunkt war der Autor bereits eine Berühmtheit, hatte er doch sieben Jahre vorher die beiden bahnbrechenden Bücher The Divided Self (Das geteilte Selbst) sowie Self and Others (Das Selbst und die Anderen) veröffentlicht. Diese führten zu einem völlig neuen Verständnis der Schizophrenie, revolutionierten die Beziehung zwischen Therapeut und Patient und sollten Laing im Laufe der kommenden Jahre zusammen mit seinen anderen Schriften zu einem »Guru« innerhalb und außerhalb der psychiatrischen Szene machen.
Biographie
Ronald David Laing wird am 7. Oktober 1927 in Glasgow geboren. Er ist wohl nicht gerade das, was man ein Wunschkind nennt, denn sein Vater David McNair Laing, so schreibt der Sohn später in Die Tatsachen des Lebens, konnte »tagelang niemandem eingestehen, dass ich geboren war.« Seine Mutter Amelia Laing, geborene Kirkwood, die ihre Schwangerschaft durch weite Kleidung lange verborgen hatte, ist anfangs aufgrund eines Schwächeanfalls nicht in der Lage, sich um den Säugling zu kümmern. So kommt eine Amme ins Haus, die sich allerdings schon nach kurzer Zeit als Alkoholikerin entpuppt.
Er schläft zusammen mit seiner Mutter in einem Zimmer mit getrennten Betten, während der Vater in einem anderen Zimmer schläft. Sein Elternhaus ist äußerst prüde und, so Laing in Die Tatsachen des Lebens: »nach Aussage beider hatten sie ihre sexuellen Beziehungen schon vor meiner Zeugung unwiderruflich eingestellt.« Lediglich ein Muttermal auf seinem rechten Knie, das auch sein Vater besitzt, beweist ihm, dass es sich nicht um unbefleckte Empfängnis gehandelt haben kann.
Die ersten sechs Lebensjahre darf Ronald nicht alleine das Haus verlassen, nicht mit anderen Kindern spielen und wird darüber hinaus regelmäßig von seinem Vater geschlagen. Eine äußerst schwierige Kindheit also und man muss kein Psychologe sein, um zu sehen, dass hier nicht zuletzt die Ursachen für seine eigenen Probleme, seine Depressionen wie auch für seine spätere Alkoholsucht liegen. Allerdings haben diese beiden komplizierten Elternteile ihn auch gelehrt, schon früh psychologisches Feingefühl zu entwickeln. Was sich hier abspielte war somit auch das »Drama des begabten Kindes.«
Soweit ich mich erinnere, wurde das Wort »ficken« nur ein einziges Mal in unserem Haus gebraucht, und zwar von mir selbst mit fünfzehn Jahren, etwa in der Art: »Was bildet sich dieser alte Ficker eigentlich ein?« Ich hatte immer noch keine Ahnung, was das Wort bedeutete. Meine Mutter stand vor einer dieser Tapeten mit Blumenmuster, als ihr das Wort an die Ohren drang. Sie wurde totenbleich, sank gegen die Wand und glitt langsam zu Boden. Mein Vater war so entgeistert, daß er vergaß, mich zu schlagen, aber er schaffte es noch, mit zitternder Stimme zu sagen: »Das Wort will ich nie, nie, nie mehr in diesem Haus hören!« (Die Tatsachen des Lebens)
Im Alter von fünf Jahren gerät der kleine Ronald nach Laings eigener Aussage in eine »extreme intellektuelle Krise«, als er erfährt, dass Santa Claus nichts anderes ist als seine eigenen Eltern. »Nach diesem Vorfall hütete ich mich davor, etwas nur deshalb zu glauben, weil es mir gesagt wurde.«
Von 1932 bis 1936 besucht er die John Cuthbertson Grundschule in Glasgow und anschließend die weiterführende Hutcheson’s Boys’ Grammar School. Er ist ein hervorragender Schüler und sowohl für ihn als auch für seine Eltern stand immer fest, dass er zu den Klassenbesten gehören wird. Er beschäftigt sich früh mit Philosophie, spielt Klavier, lernt Latein und Griechisch und ist wohl das, was man heute hochbegabt nennen würde.
In den nächsten Jahren passt er sich, »einem ruhigen Leben zuliebe«, ganz bewusst an. Hätte man Ronald Laing zu dieser Zeit kennen gelernt, so wäre man wohl kaum auf den Gedanken verfallen, dieser angepasste Junge könnte zwanzig Jahre später eine Revolution der psychiatrischen Theorie und Praxis einleiten. In seiner Autobiographie Weisheit, Wahnsinn, Torheit schreibt er allerdings auch, dass er für sein Verhalten einen Preis zu zahlen hatte: Er bekommt Asthma und muss »mit einem höchst unangenehmen, ekelhaften Gefühl der Bestechlichkeit leben.« Gleichzeitig glaubt er immer, etwas falsch gemacht zu haben und ist der Meinung: »dass ich selber schuld bin, wenn ich hinfalle, wenn ich irgendwie stürze; ich werde dafür – zu Recht – bestraft. Ich bin immer noch selber schuld, wenn ich mir eine Grippe einfange.« Gleichzeitig ahnt er aber bereits, dass das wohl doch nicht die ganze Wahrheit sein könne.
Schon sehr früh, im Alter von vierzehn Jahren, weiß er, dass er einmal Psychologie, Philosophie und Theologie studieren wird. Er entscheidet sich aber letztlich doch für die Medizin und beginnt 1945, mit Ende des Zweiten Weltkrieges, sein Medizinstudium an der Universität Glasgow. Nachdem er beim ersten Versuch durch das Examen fällt, absolviert er es erfolgreich im zweiten Anlauf. Während seiner Studienzeit wird die Psychiatrie zu seinem bevorzugten Interessensgebiet und natürlich beschäftigt er sich weiterhin intensiv mit Philosophie und Theologie. Besonders die existenzialistische Philosophie hat es ihm angetan und er liest Sören Kierkegaard, Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Karl Jaspers. Aber auch Theologen wie Paul Tillich und Martin Buber und nicht zuletzt existenzialistisch geprägte Psychiater wie Ludwig Binswanger, Medard Boss und Eugène Minkowski wecken sein Interesse. Besonders die Einflüsse von Sartre und Buber sind nicht zu übersehen, gerade auch in der Phänomenologie der Erfahrung.
Nach seinem Examen arbeitet Laing von 1951-53 als Psychiater im Royal Army Medical Corps. 1952 heiratet er seine Freundin Anne Hearne, die bereits von ihm schwanger ist, und wird im Laufe seines Lebens Vater von sechs Söhnen und vier Töchtern von vier verschiedenen Frauen. 1953 wechselt er an das Royal Mental Hospital in Glasgow, um seine Ausbildung zum Psychiater abzuschließen. Von 1956 an unterrichtet er dort Medizinische Psychologie und studiert anschließend Psychoanalyse am Britischen Institut für Psychoanalyse in London. Seine Lehranalyse absolviert er dabei bei den beiden Psychoanalytikern Charles Rycroft und Donald Woods Winnicott.
Von Ende 1956 an arbeitet Laing als Assistenzarzt an der Londonder Tavistock-Klinik, die heute zu den wichtigsten Kliniken im Bereich der psychoanalytisch fundierten Psychotherapie gehört und wurde 1962 Direktor der Langham-Klinik.
1960/61 erscheinen die beiden Bücher The Divided Self (Das geteilte Selbst) sowie Self and Others (Das Selbst und die Anderen), die seinen Ruhm als Psychiater begründen sollten. In den folgenden Jahren veröffentlicht er weitere Schriften, zum Teil auch als Ko-Autor. Zusammen mit seinem Kollegen Aaron Esterson publiziert er 1964 Sanity, Madness and the Family (Wahnsinn und Familie), mit David Cooper gibt er im gleichen Jahr Reason and Violence. A Decade of Sartre`s Philosophy 1950-1960 heraus (Vernunft und Gewalt. Drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960). 1966 erscheint zusammen mit H. Phillipson und A. R. Lee Interpersonal Perception (Interpersonelle Wahrnehmung).
Im Jahr 1965 gründet Laing in einem Haus (Kingsley Hall) im Londoner East End eine Wohngemeinschaft mit Menschen, bei denen Schizophrenie diagnostiziert wurde. Ohne Medikamente, Elektroschocks, Operationen und irgendwelche Beschränkungen leben hier Patienten und Therapeuten zusammen. Der Regisseur Peter Robinson hat in seinem 1972 erschienenen Film Asylum diesem radikalen psychologischen Experiment, das 1970 eingestellt wurde, ein Denkmal gesetzt.
1967 erscheint schließlich sein kommerziell erfolgreichstes Buch The Politics of Experience. Drei Jahre später veröffentlicht er das Buch knots (Knoten) und reist Anfang 1971 für ein Jahr nach Sri Lanka und Indien, um sich intensiv mit Meditation, Zen-Buddhismus und Yoga zu beschäftigen. Im Anschluss an diese Reise wendet er sich zunehmend der Mystik zu, was auch seine folgenden Schriften The Facts of Live, 1976 (Die Tatsachen des Lebens) und The Voice of Experience, 1982 (Die Stimme der Erfahrung) maßgeblich prägt. 1985, vier Jahre vor seinem Tod, erscheint Wisdom, Madness and Folly. The Making of a Psychiatrist (Weisheit, Wahnsinn, Torheit. Der Werdegang eines Psychiaters). Am 23. August 1989 erleidet Ronald Laing während eines Tennisspiels im südfranzösischen Saint Tropez einen Herzinfarkt. Der letzte von ihm überlieferte Satz lautet bezeichnenderweise: »No fucking doctor!«
Die Phänomenologie der Erfahrung
The Politics of Experience erscheint 1967 bei Penguin Books und zwei Jahre später unter dem sehr akademischen Titel Phänomenologie der Erfahrung im deutschen Suhrkamp Verlag. Genau genommen handelt es sich hier nicht um eine zusammenhängende Schrift, sondern vielmehr um einzelne, zum Teil überarbeitete Vorträge und Artikel, die im Zeitraum zwischen 1964 und 1967 entstanden.
Auch nach einem halben Jahrhundert ist es lohnenswert, sich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen und nicht Weniges klingt, als wäre es gestern geschrieben. Laings zentrales Thema ist die Entfremdung des modernen Menschen. Die Konsequenzen dieser Entfremdung sind zum einen die Zerstörung seiner Erfahrung von sich und der Welt wie auch die Zerstörung seiner Beziehungen zur Welt wie auch zu anderen Menschen. »Wir sind hineingeboren in eine Welt, in der uns Entfremdung erwartet. Wir sind potentiell Menschen, aber leben in der Entfremdung, und das ist kein natürlicher Status. Entfremdung als unsere gegenwärtige Bestimmung ist nur möglich durch Gewaltanwendung von Menschen gegenüber Menschen.«
Laing geht es darum, nicht bei der Analyse des menschlichen Verhaltens stehen zu bleiben, wie es der Behaviourismus tut, der in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts besonders durch B.F. Skinner sehr populär wurde. Er möchte die Erfahrung der Person in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellen und sieht gleichzeitig die Problematik, die damit verbunden ist, da die Erfahrung des Anderen nie meine Erfahrung sein kann und immer nur durch das Verhalten der betreffenden Person vermittelt ist. Aber »ich kann nicht anders – ich muß versuchen, deine Erfahrung zu verstehen. Denn wenn ich auch deine Erfahrung nicht erfahre […], so erfahre ich dich doch als Erfahrenden.«
Laing stellt die Frage, ob Menschen heute Personen sein können. Das heißt, ob Menschen als erfahrende, selbstbestimmte Subjekte in Beziehung zu anderen Menschen treten können? Daraus folgen weitere wesentliche Fragen, wie beispielsweise die nach der Möglichkeit von Liebe und Freiheit. Laing definiert dabei die Person, bezogen auf die Erfahrung, als »Orientierungszentrum des Objektiven Universums« und bezogen auf das Verhalten als »Aktionsquelle«. Er zeigt, dass Personen etwas grundsätzlich anderes sind als naturwissenschaftlich beschreibbare Objekte. Will man eine Person untersuchen, so ist das nur möglich, indem die betreffende Person als in Beziehung zu anderen und zur entsprechenden sozialen Umwelt stehend aufgefasst wird. Nur wenn man ihr den Status als Subjekt zugesteht und ihr auf dieser Ebene als Subjekt begegnet, lässt sich etwas Adäquates über die Person aussagen. Eine Person ist kein Objekt, sondern »das Ich oder das Du, […] das Er oder das Sie, wodurch ein Objekt erfahren wird.« Dieser interpersonell phänomenologische Ansatz, der stark von Martin Buber und seiner dialogischen Auffassung der Person beeinflusst ist, hat natürlich auch weitreichende Folgen für den Umgang des Therapeuten mit dem Patienten, was Laing in Das geteilte Selbst bereits ausführlich dargelegt hat.
Weiter konstatiert Laing, dass wir die Beziehung zu unserer inneren Welt verloren hätten, und in der Regel auch über keine unmittelbare Erfahrung einer spirituellen Ebene mehr verfügen. Dieser Zustand der Entfremdung von sich und der Transzendenz bedeutet für Laing »eine fast unglaubliche Verwüstung unserer Erfahrung«. Dieser Mensch, der sowohl die Verbindung zu seinem Inneren, wie auch zur Transzendenz abgeschnitten hat, werde dabei in der Regel als völlig normal angesehen. Mehr noch, sei es das unausgesprochene Ziel dieser Gesellschaft, den Menschen dazu zu bringen, in dieser Art und Weise normal zu werden. »Was wir normal nennen, ist ein Produkt von Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion, Introjektion und anderer Formen destruktiver Aktion gegen die Erfahrung. Sie ist radikal der Struktur des Seins entfremdet.« An dieser Stelle zeigt sich, so Laing, wie schwer die Abgrenzung zu als krank bezeichnenden Menschen ist. Man hält in dieser Weise entfremdete Personen für normal, weil sie sich im Rahmen der gesellschaftlichen Normen bewegen, das heißt, wie jedermann handeln, wobei »Formen der Entfremdung außerhalb der geltenden Entfremdungsnorm […] von der ›normalen‹ Mehrheit mit dem Etikett ›wider-‹ oder ›wahnsinnig‹ versehen« werden.
Die Zerstörung unserer Erfahrung, das heißt die Zerstörung unserer Beziehung zu uns selbst, zu anderen Menschen, zur Transzendenz wie zur Welt, stellt für Laing die Ursache der Zerstörung der natürlichen Umwelt, wie auch unserer eigenen Zerstörung und des Anderen im Krieg dar. Und es ist kein Zufall, dass der Satz »wenn unsere Erfahrung zerstört ist, wird unser Verhalten zerstörerisch sein«, einer der wenigen kursiv gedruckten Sätze im ganzen Buch ist.
Die Gesellschaft schätzt ihren normalen Menschen. Sie erzieht Kinder dazu, sich selbst zu verlieren, absurd zu werden und so normal zu sein. Normale Menschen haben in den letzten fünfzig Jahren vielleicht hundert Millionen normale Mitmenschen getötet
Worauf es Laing ankommt, ist, zu zeigen, wie eng unsere Erfahrung mit unserem Verhalten verknüpft ist. Zerstört man die Erfahrung des Menschen, macht man auch sein Verhalten zerstörerisch und raubt ihm damit seine Humanität. An dieser Stelle darf man nicht vergessen, dass zur Zeit der Niederschrift dieses Textes Amerika in Vietnam einen grausamen Vernichtungskrieg gegen die dort lebende Bevölkerung führte, dem Millionen von Vietnamesen und Vietnamesinnen zum Opfer fielen, bei denen es sich in der überwiegenden Mehrheit um Zivilisten handelte. Laings vorläufiges Fazit ist ambivalent: Auf der einen Seite ist er davon überzeugt, dass wir uns mit Sicherheit selbst ausrotten werden, »falls wir nicht unser Verhalten befriedigender als gegenwärtig regulieren.« Auf der anderen Seite »enthält die Geburt eines jeden Kindes die Möglichkeit eines Aufschubs. Jedes Kind ist ein neues Wesen, ein potentieller Prophet, gestürzt in die äußere Dunkelheit. Wer sind wir, daß wir entscheiden könnten, es gebe keine Hoffnung mehr.«
Laing betont darüber hinaus die Bedeutung der Fantasie für unsere interpersonellen Beziehungen. Fantasie hat für Laing vor allem mit »Erfahrung, mit Bedeutung und […] Relationen« zu tun. Da wir aber auch unsere Beziehung zu unserer Welt der Fantasie weitestgehend verloren haben, sei uns nicht bewusst, in welchem Maß unsere Fantasie unsere alltäglichen Beziehungen überlagert bzw. unterminiert und oftmals unmöglich macht.
Maschinen kommunizieren bald besser miteinander als die Menschen. […] Es gibt immer mehr Interesse an der Kommunikation; es gibt immer weniger zu kommunizieren
Beziehungen können, so Laing, immer beides sein: konstruktiv, die Person fördernd oder destruktiv, sie zerstörend. Unser Handeln könne demnach dazu führen, Möglichkeiten zu eröffnen, um unsere Erfahrung und die des Anderen zu bereichern oder aber dazu, diese Möglichkeiten zu vernichten. Da die Erfahrung des so genannten »normalen« Menschen zerstört wurde, können, so Laing, auch seine Handlungen sowohl für sich selbst als auch für andere nur zerstörerisch sein.
Laing beschreibt eine Fülle von Abwehrmechanismen, über die der Mensch verfügt, um einer Begegnung mit sich selbst wirkungsvoll aus dem Weg zu gehen. Dazu gehören Verdrängung, Verleugnung, Isolierung, Projektion und Introjektion. Die Aufgabe der Psychoanalyse besteht, Laing zufolge, nun darin zu zeigen, dass der betreffende Mensch keinem blinden Mechanismus von Entfremdung unterworfen ist, sondern er sich diese, die Erfahrung und jede wahre Zwischenmenschlichkeit zerstörenden Beschneidungen seiner Persönlichkeit selbst zufügt.
Daneben betont Laing die Bedeutung des Nichtseins und hier zeigt sich der große Einfluss der Philosophie Kierkegaards, Heideggers und Sartres. Nach Sartre kommt erst mit dem Menschen das Nichts in das vor seinem Erscheinen geschlossene Sein der Welt. Denn nur der Mensch ist fähig, das Sein zu hinterfragen, es zu negieren und ihm das Nichtsein entgegenzustellen. Das Sein selbst tritt dabei nicht in Erscheinung, sondern zeigt sich lediglich in den Relationen der verschiedenen Seienden. Der Mensch ist »hineingehalten in das Nichts« (Heidegger), kann gerade deshalb das Sein transzendieren und Schöpfer von Etwas sein. Diese Erfahrung, »eigentliches Medium eines kontinuierlichen Schöpfungsprozesses zu sein, trägt uns über alle Depression, über Verfolgung, eitlen Ruhm, über Chaos sogar oder Leere hinweg mitten in jenen kontinuierlichen Sprung von Nichtsein in Sein.«
Doch dieses Wissen um das Nichts ist durch und durch ambivalent. Es kann den Menschen zum wahren Schöpfer machen oder ihn in tiefe Angst und Verzweiflung stürzen. »Doch solch ein Mensch ist nicht den Weg bis zum Ende gegangen – Ende von Zeit, Raum, Dunkelheit und Licht.« So müsse er zwangsläufig scheitern, da er nicht erkennt, dass er selbst ein Teil dieses »Umgreifenden« (Jaspers) ist [und] daß alles anfängt, wo alles endet.«
Laing geht es gerade innerhalb der psychotherapeutischen Praxis darum, den Menschen nicht als Objekt, sondern vor allem als ein in Beziehung stehendes Subjekt zu verstehen. Er lehnt deshalb alle Theorien ab, die versuchen den Menschen in irgendeiner Form zu reifizieren, d.h. zum bloßen Objekt zu machen. Auch erteilt er allen Therapieschulen eine Absage, die sich einseitig auf das Verhalten oder die Erfahrung konzentrieren. Damit meint er auch die Metapsychologie Freuds, Federns, Rapaports, u.a., die nach Laing »keine Konstrukte für irgendein soziales System« besitzt und »keinen Begriff von ›mir‹, außer als objektiviertem ›Ego‹ hat«. Der Psychoanalyse gesteht er zwar zu, die Bedeutung der Erfahrung für das Handeln erkannt zu haben, ohne aber zu begreifen, was Erfahrung ist. Die Verhaltenstherapie ist vor allem Ziel seiner Kritik, da sie, nach Laing, nicht die Erfahrung, sondern Objekte in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt. Sie würde »nur im Hinblick auf den anderen ohne Bezug auf das Selbst des Therapeuten oder des Patienten« handeln und denken.
Für ihn bedeutet somit Therapie, den Menschen in seinem ganzen Menschsein wie auch in seinem gesamten sozialen Beziehungsgefüge zu betrachten. Psychotherapie besteht für Laing dabei im »Abtragen all dessen, was zwischen uns steht – der Stützen, Masken, Rollen, Lügen, Widerstände, Ängste, Projektionen und Introjektionen, kurz: aller Überhänge aus Vergangenheit, Übertragung und Gegenübertragung, die wir nach Gewohnheit und Übereinkunft, bewußt oder unbewußt, bei unseren Beziehungen in Zahlung geben.« Das heißt, sowohl der Patient als auch der Therapeut sind aufgerufen, sich offen und in Freiheit auf Augenhöhe zu begegnen. Da auch der Therapeut in einer Welt lebt und aufgewachsen ist, die von Grund auf sich selbst entfremdet ist, muss auch er viele seiner inneren Widerstände aufgeben und erst einmal einen Zugang zur Welt seiner Erfahrung finden, um Zugang zur Erfahrungswelt seines Patienten zu bekommen. Im besten Fall verändert die Therapie somit nicht nur den Patienten, sondern auch den Therapeuten. Therapie bleibt für Laing somit der Versuch zweier Menschen, »die Ganzheit der Existenz durch ihre Relationen zueinander wiederherzustellen.«
Laing ist besonders radikal, wenn es um die Beschreibung der gesellschaftlichen Ursachen für die Verstümmelung und Zerstörung unserer Erfahrung geht. Er zeigt, dass es nicht reicht, die eigene Erfahrung und die Erfahrung anderer Menschen zu zerstören. Man müsse darüber hinaus versuchen, diese Zerstörung so gut zu tarnen, dass sie nicht als Zerstörung zu erkennen ist. Diese Methode der Mystifikation besteht darin, so Laing, die Gewalt als Liebe auszugeben, denn »Liebe ist der Weg durch Zugeständnisse zur Disziplin – und durch Disziplin nur allzu oft zum Selbstverrat.«
So steht im Zentrum seiner Kritik die frühkindliche Erziehung, die Familie wie auch die Schule. »Lange vor Ausbruch eines thermonuklearen Krieges haben wir unseren eigenen Verstand verwüsten müssen. Wir fangen bei den Kindern an. Man muß sie rechtzeitig erwischen. Ohne eine sorgfältige und schnelle Gehirnwäsche würde ihr schmutziger Geist unsere schmutzigen Tricks durchschauen. Kinder sind noch keine Narren; wir werden sie jedoch zu uns ähnlichen Imbezilen machen – mit hohen Intelligenzquotienten, falls möglich.«
Gerade auch die Schule sei innerhalb des kapitalistischen Systems, das auf Ausbeutung, Gier und Konkurrenzdenken basiert, darauf aus, den Kindern die entsprechenden Verhaltensweisen, ob bewusst oder unbewusst, beizubringen, die sie für ein Leben, oder Überleben, in einer solchen Gesellschaft benötigen. Denn in »einer Gesellschaft, in welcher der Wettbewerb um die kulturellen Basisgüter Angelpunkt des Handelns ist, kann man den Leuten nicht beibringen, einander zu lieben. Deshalb muß unsere Schule die Kinder das Hassen lehren, ohne daß dies deutlich wird.«
Folgt man Laings Argumentation, so ist auch die Familie der Ort, an dem die totale soziale Anpassung eingeübt wird, indem man den Kindern beibringt so zu handeln und zu denken wie die anderen handeln und denken. Mehr noch bestehe die Funktion der Familie darin, »den Eros zu verdrängen, ein falsches Sekuritätsbewußtsein zu induzieren, den Tod zu leugnen durch Meidung des Lebens, an Gott zu glauben und nicht die ›Leere‹ zu erfahren – kurz: den eindimensionalen Menschen zu schaffen.« Er wirft den Eltern vor, ihre Kinder gleichsam in die Haut der toten Großeltern einzunähen. Die einzige Beschäftigung solcher Kinder bestünde »im Reproduzieren onkelhafter Gesten« [und] im Vergiften künftiger Kindheit nach dem eigenen Tode.«
Vehement wendet sich Laing auch gegen eine wissenschaftliche, das heißt positivistische Erklärung der Welt, bzw. der menschlichen Realität. Die Naturwissenschaften könnten, qua Definition, nur Äußeres beschreiben. Sie verblieben, so Laing, in ihren Erklärungsversuchen zwangsläufig immer auf Objektebene und würden dadurch gerade das übersehen, worum es im Leben wesentlich geht: Innerlichkeit, Subjektivität, Beziehung und Erfahrung. So wirft er den Naturwissenschaften vor, den ontologischen Hiatus zwischen Menschen und Objekten zu ignorieren. Naturwissenschaftlichkeit sei demnach »der Irrtum, Personen in Dinge zu verwandeln durch einen Prozeß der Reifikation, der selbst nicht Teil der wahrhaft naturwissenschaftlichen Methode ist.«
Laing zeigt uns eine Welt, die offensichtlich ihrer eigenen Zerstörung entgegengeht. Sich dieser Tatsache bewusst zu sein und trotzdem in Anpassung an diese Welt zu leben, sei nur möglich durch »die abscheulichste Vergewaltigung unserer Selbst«. Laing ist aber auch der Überzeugung, dass diese zerstörerischen Prozesse keine automatisch ablaufenden, von außen nicht zu beeinflussenden, Prozesse sind, sondern durch uns verändert werden können. Wir müssten nur versuchen, die Strukturen unserer Entfremdung zu verstehen, um sie aufbrechen zu können. Dafür müssten wir zuallererst den mystifizierenden Schleier beiseite ziehen, der sich über die Realität gelegt und aus ihr eine Pseudorealität gemacht hat. Hier fordert uns Laing auf, uns als freie Wesen zu betrachten und auch dementsprechend zu handeln. Das aber setzt voraus, zu erkennen, dass ich in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden bin, das mich nicht zuletzt auch immer wieder zur Konformität zwingen will. Doch, so Laing, leugnen wir diese Beziehungen, berufen uns auf unsere eigene Wirkungslosigkeit und »in dieser Kollektion von reziproker Indifferenz, reziproker Unwesentlichkeit und Einsamkeit scheint keine Freiheit zu existieren. Es herrscht Konformität in einer Präsenz, die überall anderswo ist.« Was uns noch retten könnte ist, wenn der Mensch erkennt, dass er selbst der Andere für den Anderen ist und der Andere er selbst. Wir also begreifen, dass wir alle ein Teil der »Totalität des Menschengeschlechts« sind.
Ausgangspunkt des Laingschen Denkens ist und bleibt die psychotische Erfahrung sowie die Erfahrung des Therapeuten im Umgang mit sogenannten schizophrenen Menschen. Erst das Nachdenken darüber hat ihn zu weiteren Fragestellungen geführt, wie die nach den gesellschaftlichen Ursachen der Schizophrenie und dem grundsätzlichen Unterschied von Wahnsinn und Normalität.
Soziale Anpassung an eine funktionsgestörte Gesellschaft kann aber sehr gefährlich sein. Der perfekt angepaßte Bomberpilot stellt eine größere Bedrohung der Menschheit dar als der Schizophrene in der Anstalt mit dem Wahn, die Bombe sei in ihm
Schizophrenie ist für Laing zunächst einmal der erfolgreiche Versuch, »sich nicht der sozialen Pseudo-Realität anzupassen.« Schizophrenie ist für ihn nicht die Bezeichnung eines bestimmten geistigen oder körperlichen Zustandes, »sondern ein Etikett, mit dem etliche Leute andere Leute unter bestimmten sozialen Umständen versehen.« Um Schizophrenie zu verstehen, muss man, so Laing, den gesamten sozialen Kontext des betreffenden Menschen untersuchen. Darüber hinaus optiert Laing dafür, der Schizophrenie phänomenologisch zu begegnen. Das heißt, man muss versuchen alle vorgefassten Meinungen zu suspendieren und sich vorurteilsfrei den gegebenen Phänomenen nähern. Das beinhaltet auch die Überzeugung, psychotische Äußerungen als grundsätzlich verständlich anzusehen. Vor allen Dingen muss es auch darum gehen, die Erfahrungen des sogenannten Schizophrenen zu berücksichtigen und ein Verhältnis von Mensch zu Mensch und nicht von vermeintlich gesundem Therapeuten zu vermeintlich krankem Patienten herzustellen. Er weist zudem darauf hin, dass es schwierig bis unmöglich sei, eine klare Grenze zwischen normalen und geisteskranken Menschen zu ziehen. »Eher besteht ein Kontinuum, an dessen einem Ende der angepaßte Bürger und an dessen anderem Ende der unerfahrene Psychotiker stehen.«
Radikal kritisiert Laing die krankmachende, weil depersonalisierende Behandlung der Patientinnen und Patienten in den Heilanstalten seiner Zeit. Die Etikettierung als schizophren ist nach Laing nicht zuletzt auch gewissen Machtstrukturen geschuldet. Der in dieser Form Bezeichnete wird nicht mehr als mündige Person gesehen, sondern als Objekt, über das frei verfügt werden kann. »Vollständiger und radikaler als sonstwem in unserer Gesellschaft wird ihm das Menschsein aberkannt.«
Eine zentrale Ursache bei der Entstehung von Schizophrenie liegt für Laing dabei in gestörten Kommunikationsstrukturen innerhalb der Herkunftsfamilie. So würden Erfahrung und Verhalten schizophrener Personen, nach Laing, »eine spezielle Strategie dar[stellen], die jemand erfindet, um eine unerträgliche Situation ertragen zu können.«
Nicht zuletzt sieht Laing in psychotischen Prozessen den Versuch der Selbstheilung des betroffenen Menschen, der nicht durch Intervention, in welcher Form auch immer, unterbrochen werden sollte. So plädiert er dafür, Orte zu schaffen, in denen schizophrene Menschen in Sicherheit und unter menschlichen Bedingungen diesen Heilungsprozess vollziehen können. Das soll nicht ausschließlich unter professioneller therapeutischer Begleitung geschehen, sondern vielmehr durch Patienten, die diesen Heilungsprozess bereits erfolgreich durchlaufen haben. »In der Psychiatrie würde das heißen: Ex-Patienten helfen zukünftigen Patienten, verrückt zu werden.«
Am Ende kommt Laing noch einmal auf Erfahrung zu sprechen und beklagt abermals die Entfremdung von unserer inneren Welt. Er zeigt, dass die Moderne durch die Dominanz der Naturwissenschaften gerade dadurch gekennzeichnet ist, die Außenwelt maximal kontrollieren zu wollen. Dadurch habe der Mensch aber die Existenz seiner Innenwelt vergessen bzw. verleugnet, mit all seinen negativen Konsequenzen. Denn »das Außen ohne Beleuchtung von innen befindet sich im Zustande der Dunkelheit.« Dieses Abgeschnittensein von unserem Inneren ist für Laing gleichzeitig ein Abgeschnittensein von Gott. Wir erfahren heute »weder die ›Präsenz‹ Gottes noch die ›Präsenz‹ seiner Absenz, sondern die Absenz seiner ›Präsenz‹«. Da transzendentale Erfahrung aber ein grundlegendes Moment psychotischer Erfahrung sei, hätte ein säkular eingestellter Therapeut an dieser Stelle ein Problem und fände sich »in der Rolle des blinden Königs der Einäugigen.«
Aus der Perspektive des modernen, durch und durch entfremdeten Menschen seien, so Laing, die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn nicht mehr so einfach zu ziehen. »Unsere Gesundheit ist nicht ›wahre‹ Gesundheit. Ihre Verrücktheit ist nicht ›wahre‹ Verrücktheit.« Wahre Gesundheit bestände darin, unser falsches Bewusstsein, unser Angepasstsein an die Pseudo-Realität zu durchschauen und aufzugeben und ein freies, selbstbestimmtes Selbst zu entwickeln, das auch wieder Zugang zum Bereich des Transzendenten hat.
Fazit
Ronald Laing hat mit seinen Schriften, aber gerade auch mit seiner praktischen Arbeit, maßgeblich dazu beigetragen, das Verständnis von Schizophrenie zu revolutionieren. Er hat gezeigt, dass Schizophrenie keine schlichte Geisteskrankheit ist, die schließlich in Demenz und der Zerstörung der Persönlichkeit endet, sondern nicht zuletzt eine Reaktion auf eine krankmachende und kommunikationsgestörte Umgebung darstellt. Darüber hinaus war er ein scharfer Kritiker der Praxis in den Nervenheilanstalten seiner Zeit, die noch aus Lobotomie, Elektroschocks und sprachlicher Isolation bestand. Er hat gezeigt, dass auch psychotische Sprache grundsätzlich verstehbar ist und in seiner alltäglichen therapeutischen Arbeit versucht, das einseitige Machtverhältnis zwischen dem Therapeuten und dem Patienten aufzubrechen. Auch wenn er in einigen Punkten über das Ziel hinausgeschossen ist, kann sein immenser Einfluss auf die psychiatrische Praxis nicht bestritten werden.
Was auch heute noch weitestgehend überzeugt, sind Laings Analysen der Ursachen der Zerstörung unserer Erfahrung innerhalb des expansiven und konsumtiven kapitalistischen Systems. Mit dem Unterschied, dass sich die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme in der Zwischenzeit noch massiv verschärft haben. Bis in die Achtzigerjahre hinein wurde der Kapitalismus noch durch die sogenannte soziale Marktwirtschaft eingehegt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus, der als das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) gefeiert wurde, hat dieses Wirtschaftssystem in Form neoliberalen Denkens seither alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfasst oder vielmehr verseucht. So ist Laings Gesellschaftskritik heute noch aktueller als sie es zur Zeit der Niederschrift der Phänomenologie der Erfahrung gewesen ist.
Auch im Hinblick auf die weiter zunehmende und globale Vernichtung der Natur ist seine These kaum zu widerlegen, dass wir die reale Welt erst zerstören können, wenn wir sie vorher bereits in der Theorie zerstört haben. Auch die Naturwissenschaften und im Gefolge ihr reduktionistisches, materialistisches und jede Form von Spiritualität und Innerlichkeit leugnendes Weltbild, zerstören noch immer unsere lebendige Erfahrung und unsere adäquate Erfahrung des Lebendigen jenseits wissenschaftlicher Beschreibungen.
Doch wenn auch unsere Erfahrung verstümmelt oder zerstört sein mag, so ist sie doch nicht so vollkommen zerstört, dass wir nicht noch den Schmerz des Verlustes spüren würden. Das genau gibt uns Grund zu der Hoffnung, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, den lebendigen Zugang zu unseren Erfahrungen wieder zurückzugewinnen. Wenn wir uns und diese Welt nicht eines Tages vollständig vernichten wollen, müssen wir unsere Beziehung zu uns, zur Transzendenz, wie auch zur lebendigen Welt, wiederherstellen, die wir vor langer Zeit gekappt haben. Das wird nicht einfach sein, da die Vorbedingung zur Veränderung darin besteht, erst einmal zu durchschauen, dass wir in einer entfremdeten Welt leben und zu begreifen, wie die Struktur dieser Entfremdung beschaffen ist. Ronald David Laing hat uns mit seinen Analysen und speziell mit der Phänomenologie der Erfahrung schon vor einem halben Jahrhundert ein paar wichtige Hinweise geliefert, wie wir dem Kreislauf der Selbstzerstörung entkommen können. Und wer sind wir, dass wir entscheiden könnten, es gäbe keine Hoffnung mehr?