Herr Leggewie, in Ihrem Buch Europa zuerst!- Eine Unabhängigkeitserklärung beschreiben und analysieren Sie unter anderem populistische Bewegungen und Parteien in Europa, schauen aber auch auf die Türkei, Russland und Amerika. Eine der Ursachen für das Aufkommen dieser zum Teil sehr erfolgreichen Parteien sehen Sie in einer „Repräsentationskrise der parlamentarischen Systeme“. Was genau verstehen Sie darunter?
Repräsentation (Volksvertretung) ist ein Eckpfeiler der liberalen Demokratie, die sich ja nicht mehr in einem von Gott eingesetzten Monarchen repräsentiert sieht, auch nicht Herrscher und Beherrschte oder Volk und Regierung gleichsetzt, sondern den sozialen und kulturellen Pluralismus der modernen Gesellschaft anerkennt und diesen in Parlamenten als Einrichtungen der Volksvertretung zum Ausdruck bringen will. Die Abgeordneten, die das Volk wählt, sollen die Interessen der Gemeinschaft vertreten, aber sie dürfen auch spezielle Interessen ihrer Wählerschaft vertreten, und dabei sind sie, wie es das Grundgesetz ausdrückt, einzig ihrem Gewissen verpflichtet. Was wir vor zwanzig Jahren als Politikverdrossenheit identifiziert haben, ist Ausdruck einer wachsenden Distanz und Entfremdung, die sich mittlerweile frech und massiv gegen die „politische Klasse“ insgesamt wendet und bei vielen unverblümt antidemokratische Einstellungen zur Geltung bringt. Befördert wird das durch tatsächliche Abgehobenheit politischer Eliten, aber ein populistischer Kurzschluss stellt grundsätzlich in Frage, dass Politiker mehr vertreten könnten als ihre ureigenen Interessen. So wird ein Gegensatz zwischen „den“ Politikern und „dem“ Volk konstruiert, und eine Nacht beschworen, in der alle Katzen grau werden. Fatalerweise vertraut sich die enttäuschte Volksgemeinschaft häufig Milliardären und halbseidenen Führern an, von denen sie sich, seltsam genug, besser verstanden und vertreten fühlen.
Was wäre Ihrer Meinung nach jetzt geboten, um die von Ihnen beschriebene Repräsentationskrise zu überwinden?
Das ist ja wohl die Million-Euro-Frage. Das Bild, das die Bundesrepublik Deutschland seit Monaten bietet, ist verheerend. Es nährt alle nur denkbaren Vorurteile gegenüber der Berufspolitik und schwächt das Vertrauen in eine leistungsfähige Regierung. Generell gilt, dass politische Systeme berechtigten und unterstellten Vorwürfen, sie seien abgehoben und Parteien würden sich nicht ums gemeine Volk kümmern, mit „responsiver“ Politik begegnen müssen. Einer Politik also, die Probleme nicht nur benennt und auf die lange Bank schiebt, sondern konkrete Lösungen vorweisen kann. Auch die Beschwerden der Populisten haben jeweils einen „Wahrheitskern“, den es zu bearbeiten und zu beantworten gilt, natürlich nicht mit Entsolidarisierung, sondern mit einwandfreien Besserungen. Aber ich beschränke meine Kritik nicht auf die politischen Eliten. Auch das Wahlvolk, die Bürgerschaft muss aus der abwartenden, oft zynischen Sanktionshaltung heraustreten und begreifen, dass man nicht immer fragen kann, was das Land für einen tun kann, sondern auch, was man selbst für das Land tun will. Und es muss den politischen Kompromiss, das Lebenselixier pluralistischer Gesellschaften, wieder schätzen lernen.
Wo sehen Sie jetzt und in Zukunft neben den eben angesprochenen Problemen die größten Herausforderungen und Gefahren für die liberalen Demokratien Europas?
Das wäre die Proliferation der vom ungarischen Premierminister Viktor Orbán und anderen bevorzugten „illiberalen Demokratie“, die zentrale Errungenschaften der Gewaltenteilung, des Minderheitenschutzes, der Oppositionsrechte, generell der Bürgerrechte, der Meinungs- und Pressefreiheit, der Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung mutwillig schreddert und das ganze Willkürunternehmen mit „Volkes Wille“ kaschiert. Die Redensart, das Volk stehe über dem Recht, das die polnische PiS verlauten lässt, aber auch bei FPÖ und AfD zu hören ist. Die bio-deutsche (oder bio-französische) Regression auf das eigene, rein ethnisch definierte Volk ist ein Anschlag auf die Demokratie, wie wir sie kennen. Und man sieht in Ungarn, wie weit das schon reicht und in Russland und der Türkei, wohin das führen kann.
Ihr Buch trägt den Untertitel „Eine Unabhängigkeitserklärung“. Vielleicht können Sie kurz skizzieren, wie eine solche europäische Unabhängigkeitserklärung aussehen und was Europa dadurch gewinnen könnte.
Europa war lange Jahrzehnte aufgrund seiner nationalistischen Selbstzerstörung abhängig von Amerika (das war positiv) und Russland. Nach der Überwindung der Jalta-Teilung kam die Idee der Vereinigten Staaten von Europa allmählich auf Tour, wuchs eine europäische Gesellschaft. Seit ein, zwei Dekaden stockt dieser Prozess. Europa macht sich abhängig und angreifbar durch eine konservative Revolution, die nun in Donald Trump ihr Vorbild sieht, und von der Despotie in Moskau. Dagegen müssen wir uns geistig und materiell unabhängig erklären, aber nicht durch den Rückzug in nationale Wagenburgen, sondern als europäische Gesellschaft und Demokratie, die sich im Übrigen nicht abschottet, sondern in Inter-Dependenz kooperationsbereit mit dem Rest der Welt in Verbindung ist.
Ein von Amerika unabhängiges, oder besser unabhängigeres, Europa müsste sich auch verteidigungspolitisch neu organisieren. Die Kosten zum Aufbau einer europäischen Armee wären immens, abgesehen von den Ängsten, die ein aufgerüstetes Europa in einigen Ländern auslösen würde. Ist das überhaupt denkbar und wünschenswert?
Wünschenswert ist eine Welt ohne Krieg und Waffen, in der sich Konflikte friedlich regeln lassen. Dagegen ist niemand. In der aktuellen Situation erleben wir eskalierende Konflikte, völkerrechtswidrige Aggressionen, eine globale Aufrüstung. Das klingt leider nicht mehr nach Wunschkonzert. Eine realistische Sicherheitsstrategie muss sich sowohl mit dem asymmetrischen Terror-Krieg wie auch mit den „Nadelstichen“ Putins und dem offenen Krieg auseinandersetzen, den andere Akteure führen. Die europäischen Kräfte zu bündeln, heißt nicht per se Aufrüstung, sondern kann im Effekt Militärausgaben von 26 Armeen einsparen und sicherheitspolitisch überzeugender sei. Und ich habe nicht gesagt, dass Deutschland oder EU-Länder aus der NATO austreten sollen.
Kommen wir zu einem Thema, das zurzeit mit am leidenschaftlichsten diskutiert wird: Migration. Auf Afrika bezogen schreiben Sie selbst, dass es naiv wäre anzunehmen, „mit einem von außen induzierten Wirtschaftswachstum einen Rückgang der Migration zu erwarten.“ Sie plädieren stattdessen für faire Handelsverträge, um die fragilen afrikanischen Märkte zu schützen. Das alleine wird aber kaum reichen. Der Soziologe Stephan Lessenich und andere haben eindrucksvoll beschrieben, dass wir selbst für einen nicht geringen Teil der Fluchtursachen verantwortlich sind, indem wir die Kosten unseres aufwändigen Lebensstils externalisieren. Müssten wir nicht ehrlicherweise unser gesamtes auf Konsum und Ausbeutung beruhendes Wirtschaftssystem auf den Prüfstand stellen?
Natürlich ist Europa mit dafür verantwortlich, dass Millionen Menschen sich auf den Weg machen: historisch durch die kolonialen Deformationen, postkolonial durch unfaire Handelsverträge, Rüstungsgeschäfte und die Stützung autoritärer Regime, aktuell auch durch unbeabsichtigte Wohlfahrtseffekte von Entwicklungshilfe. Wirtschaftswachstum, worauf diese abzielt, verhindert Migration nicht, sondern reizt sie zusätzlich an. Nach Europa dringen weniger die Ärmsten der Armen durch. Wenn Außenpolitik nun darauf warten würde, bis „wir“ unsere Lebensweise umgestellt haben (wer ist überhaupt wir?, ein verdächtiges Wort), dann würden sich die Verhältnisse nie ändern. Es kann auch unterhalb dieser Schwelle viel bi- und multilateral verändert werden, und das wird ohnehin schmerzhafte Einschnitte in „unsere“ Lebensweise mit sich bringen. Der entscheidende Punkt ist die Verhinderung von Bürgerkriegen und wirksamer Klimaschutz. Ich unterscheide hier nicht „uns“ und die „anderen“, also kulturelle Kollektive, sondern Menschen, die gegen Diktatur und für Nachhaltigkeit kämpfen von denen, die das ausdrücklich nicht tun.
Sie schlagen unter anderem vor, staatenlosen Flüchtlingen die EU-Unionsbürgerschaft zu verleihen. Ist das in Anbetracht der Tatsache, dass einige EU-Staaten sich am liebsten völlig abschotten würden, praktisch umsetzbar? Welche Vorteile hätte das für die betroffenen Menschen?
Wenn man nur noch vorschlagen würde, was angesichts der massiven Verhinderungsfront in Europa noch „praktisch machbar“ ist (von wem? in welchem Zeitraum? unter welchen veränderten Bedingungen?), könnte man das Geschäft des Schreibens gleich ganz einstellen. Was wir uns davon versprechen ist eine Öffnung des anachronistischen Staatsangehörigkeitsrechts angesichts der Tatsache, dass dieses mehr und mehr Staaten- und Rechtlose produziert.
Welche Rolle könnte in diesem Zusammenhang ein deutsches Einwanderungsgesetz spielen, das bis heute auf sich warten lässt?
Es kommt zu spät und greift zu kurz. In einem solchen Placebo-Gesetz werden Kontingente für qualifizierte, „nützliche“ Ausländer bestimmt, die in einem geregelten Verfahren einreisen, sodann Aufenthaltsrechte und Integrationsmaßnahmen aller Art. Das Gros der nach Europa drängenden Flüchtlinge fällt nicht in diese Kategorie, insofern muss man derzeit vor allem eine nominelle oder faktische weitere Einschränkung des Asylrechts verhindern, die bessere Verteilung von Flüchtlingen seitens der EU durchsetzen und, wie schon angesprochen, eine Politik der „Bekämpfung von Fluchtursachen“ initiieren, die diesen Namen verdient.
Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang ist der Umwelt – und Klimaschutz. Sie sind der Überzeugung, dass man den Kapitalismus nicht abschaffen muss, um das Klima zu schützen, halten ihn aber unter ethischen Aspekten für reformierungsbedürftig. Harald Welzer, mit dem zusammen Sie 2009 das Buch Das Ende der Welt, wie wir sie kannten veröffentlicht haben, schreibt: „Solange ein kulturelles Modell wie die Kultur des ALLES IMMER in toto erhalten bleibt, übersetzt sich die Transformation eines ihrer Elemente in eine Optimierung des Falschen. Eine gelingende „Energiewende“ in der falschen Kultur kann in der Konsequenz zu einer Erhöhung der Zerstörungskraft der bestehenden Praxis führen, also gerade nicht zu einer Transformation.“ Wie optimistisch sind Sie, dass in einer auf Wachstum und Konsum ausgelegten Ökonomie, eine wirkliche ökologische Wende zu schaffen ist?
Achja, die alte Frage: Reform oder Revolution…? Oder noch aporetischer: erst die Individuen verändern und dann die Verhältnisse, oder umgekehrt? Wer ernsthaft von Transformation spricht (und das haben wir ja 2008 aufgebracht), meint einen ganz umfassenden Prozess: Strukturwandel plus Selbstexperiment plus soziale Bewegung plus Kulturwandel plus X. Und da lässt sich nichts „abschaffen“, nichts verordnen, nichts von Podien auf Leute herabpredigen, die eigentlich nur gekommen sind, um ein wenig zu schaudern über steigende Meeresspiegel und Tornados in deutschen Kleinstädten. Man kann höchstens die sozial-ökologische Utopie einer Gesellschaft skizzieren, in der Mensch und Natur und vor allem Mensch & Mensch besser im Einklang stehen als in der „alten Scheiße“ (Marx), in die wir jetzt wieder stecken. Optimist wäre ein ganz falsches Etikett für jemanden, der seit zwei Jahrzehnten eine geradezu verzweifelte Hoffnung darauf verwendet, dass wir die Klima-Katastrophe noch abwenden können und skeptisch ist, wer ein solches WIR bilden könnte. Ich halte mich da an meinen Lehrer in politischer Ökologie seit den 1970er Jahren, André Gorz, dessen Ideen und Texte noch sehr aktuell sind.
Wo Sie gerade Marx erwähnen: Wer oder was könnte heute, in einer sich zunehmend entsolidarisierenden Welt, das neue revolutionäre Subjekt der Geschichte bilden?
Das eine „revolutionäre Subjekt“ ist mir zu geschichtsphilosophisch hoch gegriffen, das andere, „allgemeine Entsolidarisierung“, zu wenig differenziert, wenn man auf Akteure abhebt, die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnten. Da sind die Flüchtlinge, da sind die Energie- und Konsumgenossenschaften, da sind aufgeklärte Stadtplaner, Ingenieure, Verwaltungsangestellte und so weiter. Es mangelt ihnen wohl kaum an einer sich revolutionär nennenden Avantgarde-Partei, sondern eher an einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, gemeinsam viel stärker zu sein, als es der hoffnungslos scheinende Kampf um eine nachhaltige und offene Gesellschaft suggeriert oder der Amoklauf der Nationalisten, die Beziehungsnetzwerke, Erkenntnisgemeinschaften und Aktionsplattformen systematisch zerstören. Solidarität ist in den letzten Jahrzehnten eher gewachsen, die jetzt durch bornierte Akteure der Rechten und durch Besitzstandswahrer der Mitte und Linken durchkreuzt wird.
Aber ist es nicht gerade das Problem, dass die betreffenden Akteure, die „die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnten“, sich dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend soweit individualisiert haben, dass ihnen jegliche politische Schlagkraft fehlt? Der Historiker Philipp Blom schreibt in seinem aktuellen Buch, dass diese Gesellschaft, die sich als Markt neu erfunden hat, weder eine gemeinschaftliche Identität noch eine Art verbindlicher Transzendenz anzubieten hat. Was könnte diese „gemeinschaftliche Identität“ und „verbindliche Transzendenz“ sein, um die unterschiedlichen Akteure wieder zu vereinen?
Gemeinschaft, verbindliche Transzendenz? Da wird mir ganz schwummrig. Wenn es das ist, was wir dem identitären Angriff entgegensetzen, der Nation & Heimat in einem exklusiven Sinne beschwört und ein sinnentleertes Christentum als Referenzgröße setzt, dann hat er schon gewonnen. Individualisierung, wenn man sie nicht aus der Gesellschaft abtrennt wie Maggie Thatcher, ist nicht per se von Übel. Dass sich die antagonistischen Klassen im Reich der Freiheit auflösen und sich die allseits entwickelte Persönlichkeit des Individuums entfalten könne, war doch gerade die soziale Utopie einer klassenlosen Gesellschaft. Und noch einmal: wir leben immer noch im Zeitalter sozialer Bewegungen, die sich sehr wohl kollektive Ziele setzen (können), und die aufgeklärten Mittelschichten haben Ressourcen wie kaum irgendwelche Vorläufer der Weltgeschichte. Es ist nicht so, dass sie den Wandel nicht betreiben könnten, weil irgendein Marktradikalismus oder Zeitgeist ihnen das unmöglich machte. Die meisten, die es könnten, wollen nicht oder geben sich einer Abstiegspanik hin.
Ihr Buch endet mit dem positiven Statement „Europa ist eine Welt von morgen“. Was macht Sie so zuversichtlich, dass Europa die Zukunft gehört?
Das war ein trotziger Widerruf der Lebensbilanz eines Stefan Zweig, der das durch Hitler (und Stalin) verwüstete Europa als Welt von gestern verabschiedete und sich im Exil das Leben nahm. Haben wir daraus gelernt? Die Zuversicht schöpfte sich aus der brüchigen Hoffnung, die Demokratie sei heute besser zu schützen. Als ich 2016 diese Hoffnung formulierte, dachte ich an einen absteigenden Zyklus der völkisch-autoritären Rechten – von Österreich und den Niederlanden über Frankreich und Deutschland bis nach Italien. Es ist bekanntlich das Gegenteil eingetreten, woran die deutsche Politik und Gesellschaft einen wesentlichen Anteil hat. Und die Achse Putin-Erdogan-Trump gefährdet Europa heute ebenso in seiner Existenz wie der islamistische Terror. Wenn wir in Europa nicht aufpassen und Widerstand leisten, wird Europa keine Welt von morgen sein.
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Das Interview führte Eckart Löhr vom 5. bis 16. Februar 2018 per Mail.
Claus Leggewie, geboren 1950, studierte Geschichte und Sozialwissenschaften in Köln und Paris. Er ist Ludwig-Börne-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Von 2007 bis 2017 leitete er das kulturwissenschaftliche Institut in Essen (KWI). Er war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats „Globale Umweltveränderungen“ der Bundesregierung und ist darüber hinaus an verschiedenen europäischen Instituten und Universitäten tätig.
Publikationen (Auswahl)
Europa zuerst! – Eine Unabhängigkeitserklärung (2017); Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie (2015); Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann (2012); Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie (2011); Mit Angela Joost und Stefan Rech: Die Globalisierung und ihre Gegner (2003); Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen (2000); Mit Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie (2009); America first? Der Fall einer konservativen Revolution (1997).