Herr Gerhardt, Sie haben sich in Büchern und Vorträgen intensiv mit dem Thema Glauben und Wissen auseinandergesetzt. Sie zeigen, dass beide aufeinander angewiesen sind.  Warum bedarf der Glaube des Wissens und umgekehrt?

Wissen und Glauben sind intellektuelle Beziehungen zur Welt. Das wird von gläubigen Menschen, vermutlich mit einem Schuss Romantik, gerne anders gesehen, weil sie sich bereits im Gefühl des Glaubens dem Alltag stärker entrückt erfahren. Ich bestreite nicht, dass Gefühle hier eine besondere Rolle spielen. Alles Geistige kommt aus Stimmungen, alles ist immer auch mit Ängsten, Erwartungen und Hoffnungen verbunden, aber immer auch auf Verständnisweisen und Begriffe bezogen und somit auf das, was unseren Geist ausmacht. Also muss man sehen, dass Emotion und Intellekt zwar durchaus unterschiedliche Beziehungen des Individuums zu seinesgleichen und zu seiner Welt ausprägen – aber beide sind nötig, und sie sind beide eng miteinander verknüpft.

Die für Menschen charakteristische Beziehung zur Welt ist, nach allem was wir wissen, aus der lebenspraktischen, handwerklich und damit immer auch instrumentellen Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt hervorgegangen, auf die der Mensch freilich schon sehr früh Einfluss genommen hat. Da war es nötig, Dinge genau zu bezeichnen, um sich mit seinesgleichen möglichst unmissverständlich über sie verständigen zu können. Dass es zuvor schon andere Formen der Kommunikation gegeben hat, steht außer Zweifel. Nur wissen wir darüber vergleichsweise wenig. Doch in dem Augenblick, in dem es darum ging, das Feuer zu zähmen und in der Gruppe damit umzugehen, es längerfristig brauchbar und nützlich zu machen, musste es möglich sein, sich auf exakt Dasselbe zu beziehen. Hinzu kommt, dass mit dem Werkzeuggebrauch, mit der größeren Vielfalt der Tätigkeiten, der zunehmenden Arbeitsteilung und der ansteigenden Gruppengröße die Erwartungen an die Verständigung zwischen den Individuen zunahm.

Das alles macht wahrscheinlich, dass auch die Notwendigkeit spürbar wurde, über größere Entfernungen und Zeiträume hinweg das jeweils Gemeinte eindeutig identifizieren zu können. So haben wir uns die Entstehung der Formen einer wissenden Weltbeziehung, gestützt auf Sachverhalte, über die man gestützt auf Begriffe sprechen kann, zu erklären. Und deshalb, so meine ich, ist es keine allzu waghalsige Vermutung, anzunehmen, dass dieses Wissen in unterschiedlichen Stufen und mit wachsender Gewissheit und Reichweite dasjenige ist, was die Menschen zum Aufbau ihrer Kultur benötigten. Darauf konnten sie sich dann auch in größeren Formen der Vergemeinschaftung, vor allem unter den Bedingungen der Arbeitsteilung, stützen.

Wie entstand aus diesen Formen der wissenden Weltbeziehung der Glauben?

Dass die Menschen schon lange vorher Ahnungen, Gefühle, Befürchtungen und Erwartungen hatten, kann gewiss nicht bestritten werden. Was dann aber in der spezifischen Form des Glaubens daraus geworden ist, ist eine Reaktion auf die Tatsache, dass dieses sich in so vielen Fällen als leistungsfähig erweisende Wissen nicht ausreicht, um das zu erkennen, was man wirklich braucht, um in der Welt sowohl als Einzelner wie auch als Gemeinschaft lebenstüchtig und handlungsfähig zu sein. So viel man auch immer weiß: Der Bereich der Zukunft, auf die sich das Wissen ja letztlich richtet, bleibt im Dunkeln.

Wie kann man damit fertig werden? Kinder kommen zur Welt. Das wird vermutlich schon in steinzeitlichen Kulturen als erfreuliches Ereignis angesehen worden sein. Aber wie dauerhaft kann die Freude sein, wenn man nicht im Geringsten weiß, was auf die Gemeinschaft zukommt? Gesetzt, man hätte nur das Wissen, müsste jedes Glück in Verzweiflung umschlagen, denn man weiß über das, was aus den Kindern werden wird, nichts. Also hat man über das spärliche Wissen von ihrem künftigen Dasein sowie von der Vorsorge für ihren Schutz und ihre Pflege, hinauszugehen. Und wenn das im Modus der Erwartung, der Hoffnung oder des Glaubens geschieht, muss dabei das nicht ausreichende Wissen nicht vergessen oder gar verworfen werden. Denn der Glaube ergänzt, was das Wissen nicht bietet.

Auf die immer schon durch Elemente des Wissens grundierte Form eines einsichtigen, das Gefühl keineswegs ausschließenden, hoffenden und ahnenden Weltverhältnisses stütze ich meinen Begriff des Glaubens. Dabei dürfte die Pflege des Glaubens in religiösen Gemeinschaften mit einer sozialen Anerkennung der Notwendigkeit des Wissens verbunden gewesen sein. Denn die „Gemeinde“ ist auf die Mitwirkung von besonders Kundigen, die als Seher, Priester oder Schriftgelehrte zur Verfügung stehen, angewiesen. Auch hier haben wir eine für menschliche Lebensformen typische Arbeitsteilung, die es uns erleichtert, die Verknüpfung von Glauben und Wissen auch in ihren gesellschaftlichen Elementen nachzuvollziehen.Wie kann man damit fertig werden? Kinder kommen zur Welt. Das wird vermutlich schon in steinzeitlichen Kulturen als erfreuliches Ereignis angesehen worden sein. Aber wie dauerhaft kann die Freude sein, wenn man nicht im Geringsten weiß, was auf die Gemeinschaft zukommt? Gesetzt, man hätte nur das Wissen, müsste jedes Glück in Verzweiflung umschlagen, denn man weiß über das, was aus den Kindern werden wird, nichts. Also hat man über das spärliche Wissen von ihrem künftigen Dasein sowie von der Vorsorge für ihren Schutz und ihre Pflege, hinauszugehen. Und wenn das im Modus der Erwartung, der Hoffnung oder des Glaubens geschieht, muss dabei das nicht ausreichende Wissen nicht vergessen oder gar verworfen werden. Denn der Glaube ergänzt, was das Wissen nicht bietet. 

Die Unterscheidung zwischen einem gelehrten Priesterstand und seiner religiösen Gefolgschaft findet sich in allen kulturell entwickelten Religionen. Die Religionskritik hat das gelegentlich als ein Verhältnis der Herrschaft durch Verführung beargwöhnt; das mag in vielen Fällen so gewesen sein und gelegentlich bis heute andauern. Wichtiger aber ist, die Einsicht in die Unverzichtbarkeit eines sachkundigen Umgangs mit dem zum Glauben gehörenden Wissen, das in geordnete Formen der Verehrung des Göttlichen übersetzt werden muss. Dass es auch eine argwöhnische Kontrolle gegeben hat, weil Religionen eine ihnen offenbar von Anfang einwohnende Neigung zur Verbesserung und zur Abweichung haben, muss man nicht eigens betonen.    

Wie immer die sozialen Formen der Ausübung und der Bewahrung des Glaubens auch beschaffen sein mögen: In jedem Fall eines für das Leben benötigten Wissens braucht man den Glauben. Er kann sich dabei in zwei Formen ausprägen: Einmal als Glauben, der das Wissen in einer für das Leben notwendigen Weise ergänzt, und zum anderen die schlichte Form des Vertrauens auf eben dieses Wissen. Denn wir haben keine verlässlichen Anhaltspunkte dafür, dass das Wissen wirklich bereits die Gewissheit bietet, nach der wir vornehmlich im Fall existenzieller Krisen verlangen. Es gibt überzeugende Formen der Versicherung, es gibt Bewährungen im wiederholten Gelingen unter Einsatz eines bestimmten Wissens. Aber dass wir es für so wichtig ansehen, dass wir unser Leben darauf gründen, es mit Überzeugung anderen weitergeben und darauf Systeme des Lernens und der Aneignung bauen, setzt wiederum ein Vertrauen voraus, das wir nur als Glauben, als einen Glauben an das Wissen, bezeichnen können.

Das heißt, der Glauben könnte auch niemals durch das Wissen eingeholt werden?

So ist es. Hier sehe ich einen Unterschied zu Holm Tetens (siehe Interview), der in seiner auf analytischen Argumenten basierenden, in der Tradition der Scholastik stehenden Theologie davon ausgeht, dass man Gott als Hypothese dann nicht mehr braucht, wenn es gelingt, die Welt in konsequenter Weise kausal-mechanisch zu deuten.

Diese Erwartung halte ich für prinzipiell unerfüllbar. Vielmehr gehe ich davon aus, dass uns, je mehr wir wissen, die Grenzen unseres Wissens umso stärker vor Augen stehen. Ich folge darin den großen Physikern des 20. Jahrhunderts, wenn sie sagen, gerade die extreme Zunahme des Wissens mache klarer als je zuvor, dass wir eigentlich gar nichts wissen. Durch die enormen Fortschritte ihrer Wissenschaft sind Einstein, Heisenberg oder Pauli zu Sokratikern geworden. Sie wissen nun, wie der antike Weise auch, dass sie nichts wissen. Also gibt es keinen Anlass zu der Erwartung, unser Wissen könne eines Tages so reich und überwältigend sein, dass man nicht mehr glauben muss. Tetens hält es für eine liberale Annahme, diese Aussicht dennoch offenzulassen. Das ehrt ihn; er will kein Dogmatiker des Glaubens sein. Ich aber denke, es ist sowohl eine Verkennung des Wissens wie auch eine des Lebens, anzunehmen, das Wissen könne dem Menschen jemals genügen.

Sprechen Sie jetzt noch von dem Glauben, den Sie „epistemischen Glauben“ nennen?

Ja, ich gehe davon aus, dass letztlich aller Glauben seinen Ursprung in einem epistemischen Glauben hat. Der Glauben hat in allen Formen einen ursprünglichen Bezug auf das Wissen. Er ist auf die Defizite des Wissens bezogen, die er beheben möchte; genauer: die er mit seinen Mitteln beheben muss, um dem Menschen zu ermöglichen, im Einverständnis mit sich selbst zu leben.  

Das lässt sich auch mit Blick auf einfache Handlungsvollzüge formulieren: Woran glaubt man denn im alltäglichen Gang des Lebens? Man glaubt daran, dass etwas gelingt. Man glaubt daran, dass es bestimmte Formen der Gemeinschaft und des Handelns gibt, die sich tatsächlich in der erwarteten Weise bewähren. Das aber kann man in dieser Form nur annehmen und zur Grundlage des eigenen Tuns machen, wenn man mindestens an sich selber glaubt. Dieser Glaube an sich selbst aber hängt ohne den Glauben an einen verlässlichen Grund des Ganzen nicht nur einfach in der Luft, sondern über dem Abgrund eines Nichts. Darüber kann man, wenn man jung und bedenkenlos ist, mühelos hinwegsehen; vielleicht liegt sogar eine kluge Lebensmaxime darin, sich um die – ohnehin nicht eindeutig zu beantwortenden –  letzten Fragen nicht zu kümmern. Aber das Vergessen bietet keine Lösung, sobald sich die Fragen nach dem Grund und dem Sinn des Daseins in existenziellen Lagen stellen. (Über die Bedeutung des Sinns in den Varianten seiner physiologischen, sozialen, psychischen, logisch-semantischen und hermeneutischen Formen der Verwendung siehe: Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014, 20174). Und wenn das so ist, kann ihnen auch die Philosophie nicht ausweichen, sofern sie mehr sein möchte als eine Hilfswissenschaft für die Einzelwissenschaften.

Im Übrigen bin ich sicher, dass wir auch deshalb vom Ursprung des religiösen in einem epistemischen Glauben sprechen müssen, weil die religiösen Glaubenssätze die gleiche propositionale Struktur haben wie die Aussagen des Wissens. Auch der religiöse Glauben bezieht sich auf ein Etwas, das einer in seiner Beziehung zur Welt annimmt und von dem er denkt, dass es andere ebenso verstehen können. Hier haben wir ein nicht unerhebliches Indiz für die gemeinsame sprachgeschichtliche und bewusstseinstheoretische Herkunft von Wissen und Glauben.

Was bedeutet für Sie der Glauben ganz konkret, aus Sicht des Individuums?

Angesichts der strukturellen Verwandtschaft zwischen Glauben und Wissen gibt es auch eine Chance zur Beantwortung der Frage, worauf sich der Glaube bezieht und was er leistet. Die vorrangige Antwort ist, dass er dem Menschen Selbstvertrauen gibt. Dass er jeden Einzelnen – auch mit Blick auf das Ganze – darauf vertrauen lässt, eine einheitliche Person zu sein. Was das bedeutet, konnte man vermutlich nie zuvor besser verstehen als in einer Zeit, in der die Psychologen nicht müde werden zu behaupten, heute wisse niemand mehr, wer oder was er sei. So weit war Sokrates auch schon. Nur heute wird daraus ein Generalzweifel an jeder Selbstadressierung als Person. Der aber ist allein durch unsere Sprachpraxis ausgeräumt: Wir sagen „Ich“ und tun so gut wie alles unter Berufung auf dieses Ich. So unverschämt es nach Adorno auch sein soll, „Ich“ zu sagen. Das allerdings hat jeder, der „Ich“ sagt, mit sich selber auszumachen.

Ein Mensch, er mag in sich noch so sehr verunsichert sein, sagt „Ich“. Er spricht: „ich gehe zur Therapie“ oder er gesteht: „ich kenne mich nicht mehr aus“. Und tatsächlich muss er so sprechen, um seine Mitmenschen in Kenntnis zu setzen; er muss es sagen können, wenn er handeln und darin verstanden werden will. Das „Ich“ ist unverzichtbar, wenn jemand überzeugen oder widersprechen will; im „Ich“ liegt die Eindeutigkeit, die im Zeigen auf sich selber anschaulich wird, und durch die man sich darin von anderen unterscheidet. Wenn man hier nicht von Wissen sprechen möchte, darf man sich zumindest auf die Gewissheit beziehen, die in diesem Verweis auf sich selbst zum Ausdruck kommt. Und man darf auch von der Eindeutigkeit sprechen, die ein solcher Hinweis auf sich selbst in der Abgrenzung gegenüber anderen bedeutet. Darin zeigt sich das Vertrauen auf die Gegenwart unserer Selbst in der Gegenwart vor anderen unserer selbst sowie im Bewusstsein eines Umfänglichen und Ganzen, in dem wir uns allesamt befinden. Dieses „Vertrauen“ lässt sich nach den Gepflogenheiten der deutschen Sprache sehr wohl auch mit „Glauben“ zum Ausdruck bringen.

Wovon Sie sprechen ist „das Ganze“. Das ist bloß eine Abstraktion. Und wenn Sie das mit dem Namen Gottes belegen, haben sie doch wieder nur den abstrakten Gott der Philosophen. Ist Gott auch noch mehr für Sie, im allgemein religiösen oder vielleicht sogar im christlichen Sinn?

Wenn wir versuchen, uns klarzumachen, worauf sich dieser Glauben mit Blick auf die Welt bezieht, kann man sagen, dass die Person lediglich die eine Seite ausmacht. Sie braucht nämlich etwas, auf das sie sich bezieht, ein Gegenüber, das sie als einheitlich empfinden und begreifen können muss, um darin etwas Bestimmtes erkennen zu können. Dieses bestimmte Etwas, das die Person in theoretischer Hinsicht als ihren Gegenstand ansehen kann, wird in praktischer Absicht als Sinn oder Zweck ihres Handelns bezeichnet. So ist der tätige Mensch als Person unvermeidlich auf etwas bezogen, aus dem er seinen Sinn bezieht.

Sieht man nun diese polare Einheit der Person im Zusammenhang mit ihresgleichen, befindet sie sich in einem Zusammenhang, mit anderen Personen, die ebenso verfasst sind. Die Verbindung einer Person mit allen möglich anderen Personen und ihren Sinnbezügen kann man selbst wieder als ein Agglomerat aus Personen, Dingen und ihren Sinnerwartungen ansehen. Und man sagt nichts sonderlich Abstraktes, wenn man hier von einer unter Sinnbedingungen stehenden Einheit spricht. 

Diese Einheit wird schon im Kinderlied mühelos als unsere „Welt“ bezeichnet. Und wenn „Hänschen klein“ das versteht, und dabei sogar das Verlangen hat, „in die weite Welt hinein“ zu gehen, kann ich es nicht als wirklich durchschlagende Kritik verstehen, Philosophen ihre  Abstraktionen zum Vorwurf zu machen. Sie sprechen „Welt“ und verstehen darunter, wie auch das Hänschen im Kinderlied, eine „Einheit“, die nur als ein „Ganzes“ verstanden werden kann. Und da dieses Ganze, wenn wir es recht bedenken, nicht nur als groß und unerschöpflich angesehen werden kann, sondern auch ein Gegenstand der Bewunderung, ja der Verehrung sein kann – schließlich gehört der Mensch mit seiner Würde auch dazu – , geht es  weniger um eine Abstraktion, sondern eher um einen Akt humaner Bescheidenheit, dieses Ganze als „göttlich“ zu bezeichnen. Schließlich hat es nicht das Geringste mit Abstraktion, sondern eher mit deren Gegenteil zu tun, wenn ein Mensch das verständliche Bedürfnis hat, dieses göttliche Ganze mit dem Namen Gottes anzusprechen.

Könnten Sie diesen Gedanken noch weiter präzisieren?

Dasselbe noch einmal ohne Polemik: Wenn wir „Welt“ oder „Wirklichkeit“ so selbstverständlich denken können, wie wir im Alltag von ihnen sprechen, kann es kein schwieriger Gedanke sein, vom „Grund“ dieser Welt und vom möglichen „Sinn“ allen Weltgeschehens zu sprechen. Und mit diesen Begriffen sind wir tatsächlich bei dem, was in der religiösen und philosophischen Tradition unter dem Titel eines Gottes steht.

Welt ist das Ganze, in dem sich auch alle Anderen in Verbindung mit allem möglichen anderen befindet. Dieses Ganze können wir niemals in gegenständlicher Weise auch nur anschaulich machen, geschweige denn begreifen. Und obwohl es wirklich nur ein Gedachtes ist, nehmen wir es in dieser gedachten Form keineswegs als unzumutbare Abstraktion an, sondern als etwas, das wir tatsächlich als den korrelativen Bezug zu unserem eigenen Selbst, das wir ja immer schon selbst als ein Ganzes begreifen. Und auch das ist kein luftiger Begriff, sondern das was uns im Sprechen und Handeln trägt, was uns gelegentlich alles bedeutet. Und diesem Ganzen unserer selbst steht das Ganze der Welt gegenüber. Und wenn es überhaupt etwas gibt, dass diesen Namen verdient, dann haben wir dieses Ganze als „göttlich“ zu begreifen.

Und in dem Augenblick, wo ich ernst nehme, was sowieso immer schon die Grundlage ist:  dass es um das Ganze meiner Person und ihre Versicherung durch das Ganze des Daseins geht, dass es unser eigenes Bedürfnis ist, alles was in irgendeiner Weise von uns als bedeutsam angenommen wird auch personal anzusprechen, gibt es für jeden, der das Bedürfnis dazu verspürt, gute Gründe, dieses Göttliche als Gott anzusprechen.

Das ist in der Tat das Äußerste, was die Philosophie zu begreifen erlaubt. Und es ist in keiner Hinsicht zu ermäßigen oder zu verringern. Man kann es auch nicht bestreiten oder gar wegbeweisen. Dieses Ganze, zu dem ich selbst als Ganzes, mitsamt aller anderen Personen, Dinge und Ereignisse gehöre und in dem es mich so „gibt“, wie es andere gibt. Hier kann ich mich sogar auf Nietzsche berufen, der ausgerechnet in der Götzen-Dämmerung behauptet: „Es giebt nichts ausser dem Ganzen.“ Dem aber kann eine Person nur zustimmen, wenn sie überzeugt ist, dass es sie „gibt“.

Darin liegt übrigens ein Grund dafür, dass mir in meinen philosophischen Schriften so sehr daran liegt, die Existenz von Personen außer Zweifel zu stellen. Ich hoffe, das ist mir durch den Aufweis der soziomorphen Verfassung unseres Bewusstseins auch gelungen. Wenn Sie mich fragen, ob nicht das Ganze auch nicht oder nichts sein kann, kann ich Ihnen nur sagen, dass dann auch Ihre Frage nichts bedeutet und folglich so sinnlos ist wie meine mögliche Antwort.

Also müssen wir uns selbst, wie auch das Ganze, in dem wir leben annehmen. Zu dieser Annahme gehört die Anerkennung eines Grundes für das Ganze, durch das auch jeder und jede Einzelne – wie auch jedes einzelne Ding – begründet ist. Zu dieser Anerkennung kann uns das Wissen nur Anläufe bieten; erfolgen kann sie nur im Glauben. Und zu dieser notwendigen Annahme reicht unser Wissen nicht; hier hilft uns nur unser Glauben.

Ich kann mir tatsächlich keine einfachere Begründung für das Göttliche denken, als dadurch, dass man es als das alles umfassende Ganze versteht, in dem ich – wie alles andere auch – meinen Grund suchen und folglich auch meinen Sinn finden kann.

Um noch einmal auf die Beziehung von Glauben und Wissen zurückzukommen. Dass der Glauben auf das Wissen angewiesen ist, leuchtet unmittelbar ein. Umgekehrt ist das nicht sofort einsehbar. Schließlich gehen Sie so weit zu sagen, dass auch die Naturwissenschaften auf den Glauben angewiesen sind. Da würde wahrscheinlich so mancher widersprechen. Ich denke da an Richard Dawkins, und andere.

Richard Dawkins ist wissenschaftlich durch einen grandiosen Irrtum berühmt geworden, indem er meinte, die Gene seien die eigentlichen Subjekte der Evolution. Doch das ist seit über dreißig Jahren widerlegt. Und nun versucht er mit einem anderen Irrtum im Gespräch zu bleiben. Mit Blick auf den ersten Irrtum kann man sagen, dass es eben doch die organischen Einheiten, also die Ganzheiten der Lebewesen in der jeweiligen Einheit ihrer Spezies, sind, die die Evolution tragen – und nicht, wie Dawkins in der Rede vom „Egoismus der Gene“ behauptete, die isolierten Gene rein für sich. Es gibt nicht nur die über das einzelne Gen und seine Sequenzen vermittelte Form der Übertragung und Entwicklung, sondern es gibt auch die Epigenese, die durch den ganzen Körper vermittelt wird. Überdies zeigt sich der Lebenserfolg stets nur in der Einheit des Lebewesens, das zur Gesamtheit seiner Umweltbedingungen passt.

Man kann sagen: Damals wie heute hatte Dawkins keinen Sinn für das Ganze eines Lebewesens. Heute fehlt ihm das Verständnis für das Ganze einer Person, und so begreift er auch nicht, dass eine Person eine Entsprechung im Ganzen des Daseins sucht, das sich nun einmal nicht mit empirischen Mitteln beweisen lässt. Für einen Biologen, der in seiner Aufmerksamkeit für das Leben, das jederzeit und überall organische Einheiten schafft und sich auf lediglich habituell versicherte Einheiten wie seine Umwelt beziehen können muss, ist das ein bemerkenswertes Defizit. Es hindert Dawkins daran zu erkennen, dass die Umwelt des Menschen nicht mehr und nicht weniger als seine Welt ist, in die er passt und in der es sich annehmen muss, um in selbstbewusster Weise ein Mensch zu sein. Und wer das nicht wahrzunehmen vermag, dem dürfte es auch verschlossen sein, dass der Mensch im Ganzen seiner Welt nicht nur dieses und jenes Faktum, sondern auch seine eigene Bedeutung zu erkennen sucht. Gelingt ihm dies, kann er gar nicht anders, als auch der Welt als Ganzer eine über alles Benennbare hinausgehende Bedeutung zuzusprechen, an der er selbst partizipiert. Darin hat dann auch sein eigener Lebenssinn seinen Grund.

Doch das ist nur eine Paraphrase des längst Gesagten. Ich gehe davon aus, dass jeder Nachdenkliche, wenn er nicht zu viel versprechen will, zugeben muss, dass sein Wissen sehr begrenzt ist. Eigentlich kann jeder wissen, dass Wissen allein zum Leben nicht reicht. Also hat die Philosophie die Pflicht, die Grenzen des Wissens zu bestimmen. Es ist die große Leistung der kritischen Philosophie Kants, diese Grenzbestimmung vorzunehmen. Ich halte sie im Ergebnis für gelungen: Durch den Aufweis von Kriterien für das objektive, allgemein gültige Wissen, hat Kant, wie er es ausdrückte, „Platz für den Glauben“ geschaffen.

Der metaphysische und zugleich lebenspraktische Raum, der dem Glauben auf diese Weise erschlossen und kritisch gerechtfertigt wird, ist der, in dem sich das Bewusstsein von der Gegenwart eines Göttlichen in der Einstellung und im Tun des Menschen als Gewinn an Sicherheit im Selbst- und Weltvertrauen erweisen muss.

Sie schreiben in Ihrem Buch Der Sinn des Sinns, dass Sie zu Beginn Ihrer wissenschaftlichen Karriere aus der Kirche ausgetreten sind und 25 Jahre später diese Entscheidung revidiert haben „mit dem Glück eines Menschen, der etwas Verlorenes wiedergefunden hat“.

Schon als Schüler dachte ich, ich sei aus dem Glauben herausgewachsen. Im Abitur wurde ich über Feuerbachs Religionskritik geprüft, die ich damals für das letzte Wort über die Religion ansah. Ich war der Überzeugung, dass Religion nur eine Illusion ist, die wir nützlich finden können, die auch ihre Verdienste haben kann, die wir als selbstbewusste Individuen aber nicht brauchen. Dennoch habe ich durch die Gläubigen in meiner Nähe Verständnis für alle gehabt, die mit Hilfe ihres Glaubens, die schwere Zeit des Krieges und des Wiederaufbaus überstanden hatten. Ich glaubte, diesen Glauben nicht nötig zu haben.

Das kann ich rückblickend nur als elitären Hochmut bezeichnen, den ich freilich für mich behalten habe. Denn es wäre mir vollkommen abwegig vorgekommen, die mir nächsten Menschen, für eben das zu tadeln, was ihnen die Kraft gegeben hat, mir unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit zur Erfahrung einer glücklichen Kindheit und Jugend zu verhelfen. Mir war bewusst, dass meine Mutter es ohne den Glauben nie geschafft hätte, die Flucht, den Verlust ihrer Heimat, die Anfeindungen als Flüchtling in der ihr gar nicht bekannten Familie ihres vermissten Mannes sowie ihr Witwendasein so zuversichtlich und mit so viel Liebe zu mir zu bestehen.

Aber Sie waren Atheist?

Als Schüler glaubte ich, mich davon überzeugt zu haben, dass es Gott als ein singuläres Wesen nicht geben kann. Denn wo sollte er sein, in welcher Form und mit welchen Mitteln? Immerhin hatte ich schon in der Schulzeit Karl Jaspers gelesen und mir angewöhnt, mit einer gewissen Achtung von der „Transzendenz“ und vom „Umgreifenden“ zu sprechen. Und Bultmanns Programm der „Entmythologisierung“ gab mir als überzeugtem Aufklärer eine Idee davon, dass man in den Gottesdiensten noch die Mythen wörtlich nahm, die mir selbst nichts mehr sagen konnten.

Darin habe ich mich für liberal gehalten. Was mit den Jahren bei mir die Änderung gebracht hat, war die Entdeckung, dass meine bewunderten Vorbilder in der Philosophie, vornehmlich Platon und Kant, auf die Idee Gottes nicht verzichten konnten, ohne dass ihnen dies durch einen gesellschaftlichen Druck abgenötigt worden ist.

Das ist ein sehr rationaler Zugang zu Gott…

… ja, ein sehr rationaler Zugang, der mir auch als solcher wichtig war! Denn ich lege Wert darauf, dass es eine philosophische Herleitung für das Göttliche geben kann. Es sind weder die angeblich rückständigen gesellschaftlichen Formationen, noch soziale Konvention, noch pure Naivität, wodurch Philosophen veranlasst werden, sich mit dem Gottesproblem zu befassen. Vielmehr sind es systematische Gründe, die sie nach einem „Ursprung“, einem „ersten Beweger“, nach einem „Ende aller Dinge“ oder nach einer alles umfassenden „Allgenugsamkeit“ suchen lässt. Man kann nicht bestreiten, dass darin eine rationale Konsequenz des systematischen Denkens zum Ausdruck kommt.

In den späten Achtziger- und in den frühen Neunzigerjahren habe ich mich in einer Frontstellung gegenüber meiner Disziplin gefühlt, weil in ihr das, was die Philosophie groß gemacht hat, nämlich das systematische Denken, für abgetan galt. Es waren ja nicht nur die sogenannten Postmodernen, die das „System“, die „Wahrheit“ und die Suche nach einer „Einheit des Ganzen“, für tot erklärt haben. In meiner Verteidigung der „Moral des Immoralismus“ oder in der Überzeugung, dass selbst im „Perspektivismus“ Nietzsches eine metaphysische Perspektive leitend sei, galt ich zunehmend als einer, der zwar über Nietzsche schreibt, aber gerade das Wesentliche an ihm verfehlt (Siehe dazu: Volker Gerhardt, Die Moral des Immoralismus, in: G. Abel/J. Salaquarda (Hrsg.), Krisis der Metaphysik, Festschrift für Wolfgang Müller-Lauter, Walter de Gruyter Berlin/ New York 1989, 417-447. Desr.. Die Perspektive des Perspektivismus, in: Festschrift für Mazzino Montinari, E. Behler/ M. Montinari/ W. Müller-Lauter/ H. Wenzel (Hrsg.) Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Band 18, Walter de Gruyter Berlin/New York 1989, 260–281). Das ist übrigens bis heute so, weil ich nicht an den „Tod Gottes“ glaube und den physischen „Monadologismus“ in Nietzsches Leib-Philosophie zu überwinden suche (Monadologie des Leibes. Leib, Selbst und Ich in Nietzsches Zarathustra,  in: Gerhardt, Die Funken des freien Geistes, Berlin/New York 2011, **).

Ich hatte immer darauf bestanden, dass Philosophie ohne Metaphysik im Wesentlichen unvollständig bleibt

So war ich auch nie davon überzeugt, dass man die Metaphysik aufgeben könne. Ich hatte immer darauf bestanden, dass Philosophie ohne Metaphysik im Wesentlichen unvollständig bleibt. Ich ging davon aus, dass der Mensch ohne ein mit seinem Selbstbegriff kompatibles Verständnis der Welt gar nicht zu sich selber finden kann (Kein Ende der Metaphysik. in: FAZ, Geisteswissenschaften, vom 17. September 1986; Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, 20182). Von dieser Einsicht war es dann nicht weit, um schließlich zu erkennen, dass man auch auf den traditionellen Begriff für eine Einheit der Welt, die uns als Menschen etwas bedeutet, nicht verzichten kann. Und das ist der Begriff Gottes. Mit der ausdrücklichen Wiederaufnahme der Frage nach dem Göttlichen hat die Philosophie deutlich zu machen, dass in dem, worauf sie sich im Ganzen bezieht, genau das liegt, worauf sich die großen Religionen dieser Welt beziehen.

Da Sie gerade die Postmoderne erwähnt haben. Sie würden dann auch den mit diesem Denken verbundenen Werterelativismus zurückweisen?

Den metaphysischen Werterelativismus? Ganz entschieden: ja. Dass Kulturen unterschiedlich sind, dass auch Individuen jeweils nach ihren Erfahrungen und ihrem Erleben Differenzen in ihren Weltwahrnehmungen und Weltbildern haben…: wer wollte das bezweifeln? Die Differenz ist eine wesentliche Bedingung der Produktivität in allen Bereichen des Lebens, vornehmlich in der Kunst und in der Wissenschaft, aber auch in den Religionen. Was wäre, wenn Paulus, Augustinus oder Luther das geblieben wären, was sie waren und keinen Wert auf eine radikale Unterscheidung gelegt hätten?

Das Leben des Menschen ist notwendig vielfältig; es wäre falsch, die Vielfalt als ein Ärgernis beiseite zu schieben. Es reicht aber auch nicht, sie dankbar hinzunehmen. Man hat sie vielmehr mit allem Nachdruck zu fördern. Der erste, der diese Forderung erhoben hat, ist Wilhelm von Humboldt. Ihm kam es darauf an, dass Vielfalt produktiv wird. Und er konnte darin so sicher sein, weil er zugleich eine Vorstellung von der Unverzichtbarkeit von Einheit hatte. Wilhelm von Humboldts erster Text, der noch ganz unter dem Eindruck seiner Beschäftigung mit der Philosophie Kans geschrieben ist, steht unter dem Titel „Über Religion“; und seine letzte ausdrücklich philosophische Abhandlung hat er dem „Geist der Menschheit“ gewidmet, den er dann später in der Vielfalt der Sprachen suchte. – Also Pluralismus unbedingt, Relativismus jedoch auf keinen Fall. Die philosophische Pointe in diesem Zusammenspiel von Vielheit und Einheit ist, dass man ohne Pluralität die Wahrheit nicht brauchte, die es wiederum nur unter dem Anspruch einer Einheit geben kann. Ein strikter Relativismus würde die Wahrheit entweder überflüssig oder unmöglich machen.

Sie schreiben, dass Gott aufs Engste mit dieser Welt verbunden sein muss und lehnen ein transzendentes Gottesbild ab, da dieser Gott keine Verbindung zu uns hätte und wir nicht zu ihm.

Der Verzicht auf einen theologisch verstandenen Begriff der „Transzendenz“ halte ich für das Mindeste, was wir uns und dem Göttlichen schuldig sind. Dabei muss man freilich in Rechnung stellen, dass heute in vielfältigem Sinn von „Transzendenz“ gesprochen wird. Doch die derzeit sogar inflationäre Verwendung ist die Folge einer ins Stocken geratenen Geschichtsphilosophie. In ihr bietet „Transzendenz“ einen Ersatz für die verlorene Zukunft. So bleibt von der „Transzendenz“ nur das „Überschreiten“ von Grenzen, so wie es in Utopien oder auch in weitreichenden Reformenvorhaben propagiert wird. Gegen diese Verwendung habe ich nichts; sie hat den Vorzug, etwas durchaus Mögliches in Aussicht zu stellen. „Transzendenz“ in philosophischer und streng theologischer Bedeutung meint aber die bereits in sich unvorstellbare Überschreitung aller vorstellbarer Grenzen der sichtbaren oder der begriffenen Welt in den Raum des Unbegreifbaren.

Und darin liegt auch schon der Grund, warum ich den Terminus lieber vermeide. Denn er erzeugt die Illusion, als könne es in dem „Jenseits“, auf das hin die Welt überschritten werden soll, doch irgendetwas „geben“, das Bedeutung haben oder wirkungsvoll sein kann. Dieser Illusion sollte keine Nahrung gegeben werden. Vor allem hat es ein Gott nicht verdient, dorthin abgeschoben zu werden, wo alle Bedeutung endet.

Man kann nicht bestreiten, dass es ernsthafte Versuche gibt, aus einer strikt verstandenen Innerweltlichkeit heraus auf etwas zu schließen, was man dann mit dem Namen Gottes belegt. Das ist bei Husserl der Fall. Aber es bleibt auch hier nur das Negativ der phänomenalen Welt, das dem Denker die befreiende Vorstellung verschaffen kann, es könne auch alles anders sein, und dass ihn nicht zuletzt mit erwartungsvollem oder bangem Ahnen erfüllt.

Gott muss so gedacht werden, dass er in der Welt ist und darin auch in uns sein kann

Sich dem Göttlichen mit einer derart leeren Bedeutung zu nähern, widerspricht mir zutiefst. Ein Gott, der erst auf die unendliche Distanz des in jeder Hinsicht Unerreichbaren gebracht werden muss, damit er Bedeutung erlangt, wird weder dem hohen Begriff, der ihm gebührt, gerecht, noch dem Bedürfnis, von ihm gerade auch in unseren inneren Beweggründen verstanden zu werden. Die Annahme der Transzendenz widerspricht sowohl der Erwartung, dass Gott in unserem Dasein wirksam werden kann, wie auch der Hoffnung, dass er uns nahe kommt. Gott muss so gedacht werden, dass er in der Welt ist und darin auch in uns sein kann.

Nehmen wir den Gedanken, dass Gott in der Welt und auch in uns sein kann, ernst, sollten wir daraus theologisch, philosophisch und metaphysisch die Konsequenz ziehen, seine Gegenwart unter keinen Umständen in ein Jenseits zu verlegen, von wo aus er uns, streng genommen, noch nicht einmal erreichen kann. Gott wirkt in die Gegenwart unseres eigenen Lebens und kann nur darin Bedeutung für uns haben. In diesem Gedanken fallen Gottes- und Weltverständnis so zusammen, dass wir auch in unserem Selbstverständnis betroffen werden können.

Da ist eine Stelle in Ihrem Buch, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie bezeichnen dort Gott als das „im Ganzen wirkende Moment der Welt.“ Was meinen Sie damit genau?

Etwas ganz Schlichtes: Dass die Wirksamkeit Gottes nicht etwa nur den Anfang setzt, um dann am Ende jedem offenkundig zu werden. Die „Schöpfung“ ist nicht am sechsten Tag vollendet und das „Gottesgericht“ tagt nicht erst, wenn alles vorbei ist. Als „erster Beweger“ hat Gott unablässig und in allem gegenwärtig zu sein. „Allgegenwart“ und „Allgenugsamkeit“ sind die beiden aus der Tradition überlieferten Attribute, die sich ohne Widerspruch denken lassen. Die Philosophen haben sie im Terminus des „Absoluten“ zu verbinden gesucht und konnten das, im Zeitalter des Absolutismus auch bequem mit den Attributen der „Allmacht“ und der „Allwissenheit“ in Einklang bringen.

Doch diese letzten beiden Attribute stehen mit sich selbst im Widerspruch, weil Macht mindestens eine Gegenmacht braucht, um überhaupt zur Geltung zu kommen, und weil auch das Wissen auf den Gegensatz, auf die fortgesetzte Bestätigung und die mögliche Widerlegung angelegt ist. Aber Wirksamkeit ist in allem: im Kleinsten wie im Größten, im Materiellen wie im Ideellen. Sie ist das, was die Welt ausmacht und was uns selbst mit allen unseren Innervationen einbezieht. Einen angemesseneren Begriff für das Göttliche, das nicht nur äußerlich umfassend, sondern auch innerlich durchdringend ist, kenne ich nicht. Er lässt vor allem die Unterscheidung zwischen Außen und Innen hinter sich, die für Lebewesen eine essenzielle Bedeutung hat, aber im Göttlichen – in seiner „Allgegenwart“, „Allwirksamkeit“ und „Allgenugsamkeit“ – aufgehoben wird. 

Das klingt sehr nach einer pantheistischen Weltsicht. Wo liegt die Abgrenzung zum Pantheismus, oder wollen Sie sich überhaupt davon abgrenzen?

In dieser Abgrenzung sähe ich keinen Sinn. Jüngere Theologen haben mich mit der seit einigen Jahren im angelsächsischen Sprachraum wieder zu Ansehen gekommenen, spätidealistischen  Konzeption des Panentheismus in Verbindung gebracht. Die von Carl Christian Friedrich Krause bereits im frühen 19. Jahrhundert eingeschobene Silbe „en“ nimmt das Griechische „hen“ auf, das „eins“ meint und auch für „Einheit“ stehen kann. So könnte ich ebenfalls reden. Denn für den tragenden Begriff des Ganzen ist die Einheit konstitutiv, und dies sowohl für das Ganze des Daseins wie auch für das Ganze der Person.

Der paradigmatische „Pantheist“, Baruch Spinoza, ist für mich ein Kronzeuge für die Unverzichtbarkeit eines deus gerade auch in der Gleichung mit der Natur: deus sive natura. Spinoza gehört zu den aus religiösen Gründen vielfach Verfolgten. Er hätte gute Gründe gehabt, jeden Anschein des Religiösen zu meiden. Gleichwohl konnte er, allein aus philosophischen Gründen, den Gedanken an Gott nicht abweisen. Bei ihm ist die zentrale Stellung Gottes Ausdruck einer systematischen Konsequenz und zugleich ein durch und durch ernsthafter, mit existenzieller Entschiedenheit gefasster Gedanke, den ich nur in einem Punkt ergänze: Und zwar durch den kleinen Schritt, das die Natur im Ursprung als das zu erfassen ist, was der Mensch selber ist: nämlich das Ganze einer lebendigen, Natur und Bewusstsein in sich selbst verbindenden Einheit. Wenn ich diese Einheit voraussetze, dann bekommt das Ganze des Pantheismus eine ursprüngliche Beziehung zu mir als Person. Wenn wir selbst dazugehören und begreifen, wie nahe uns dieses mit „pan“ bezeichnete Eine und Ganze in seiner materialen, sensorischen und intelligiblen Einheit ist, bekommt es den Charakter eines wirklich bedeutungsvollen Ganzen, das auf uns bezogen sein muss. Das ist uns nicht einfach nur „vertraut“, sondern erscheint im Augenblick seiner Vergegenwärtig auch als „erhaben“. Das Erhabene ist Ausdruck einer übermächtigen Größe, die derart auf mich bezogen ist, dass ich ihr nicht ausweichen kann.

Der Theologe Eugen Drewermann würde an dieser Stelle Einspruch erheben. Für ihn ist Gott nicht in der Welt, sondern vielmehr bräuchten wir Gott, um in dieser Welt zu bestehen. Was sagen Sie zu diesem Gedanken?

Trotz der Gegensätze und Widersprüche erlaube ich mir von einem Ganzen zu sprechen. Und wenn Sie sehen, wie oft ich mich selber auf mich als ein personales Ganzes beziehe und nicht übertreibe, wenn ich sage, dass ich sehr unterschiedliche Dispositionen, Erfahrungen und Eindrücke in mir habe, die ich im Moment meines Sprechens überwinde, dann würde ich sagen, dass es gerade diese innerweltlichen Unvollkommenheiten sind, die wir mit der weltlichen Kraft unseres Glaubens überwinden. Es bedarf also keiner äußeren Kraft, sondern lediglich einer Konzentration meiner eigenen Lebensenergien. Drewermann scheint mir dafür selbst ein Beispiel zu geben: Wer mit so großer Überzeugungskraft von seinem Glauben sprechen kann, der bündelt die in ihm steckenden Kräfte in einer auch andere berührenden, ja mitreißenden Weise. Eine transzendente Quelle scheint mir dafür keine notwendige Bedingung zu sein.

Kommen wir von Drewermann zu Ihnen: Sie sind, wie Sie selbst schreiben, nach Ihrem Kirchenaustritt Mitte der Siebziger Jahre Ende der Neunziger wieder in die Evangelische Kirche eingetreten. Wieviel können Sie mit dem christlichen Gottesbegriff anfangen? Das ist ja noch einmal ein großer Sprung vom pantheistischen und für mich teilweise doch sehr abstrakten Gottesbegriffs hin zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.

Sie sagen, es sei ein großer Sprung. Das aber ist es nicht! Wenn Sie die Tatsache, dass die Formen des jeweiligen Glaubens unter kulturellen Bedingungen entstehen und unter veränderten Konstellationen auch an Bedeutung und Kraft gewinnen, dann ergibt sich der Wandel religiöser Formen wie von selbst. Für einen Kritiker wäre es bestimmt nicht schwer, meinen theologischen Beiträgen Synkretismus anzukreiden, weil sie Christliches nicht säuberlich von den antiken Quellen des religiösen Denkens trennen. Sie finden in meinen Arbeiten die Bemühung, um ein Verständnis des Göttlichen, wie es sich im Gilgamesch-Epos, im Alten Testament oder bei Platon zeigt. Und Paulus suche ich als den Vermittler auszuzeichnen, dem das Christentum – auch durch die Betonung der Individualität, der Toleranz und der Separierung von Kirche und Staat – seine bis heute fortwirkende Modernität verdankt.

Mit der zunehmenden Individualisierung, die es als Ingredienz zivilisatorischer Entwicklung schon sehr früh gegeben hat, und vor dem Hintergrund individueller Spezifizierung ist es meines Erachtens sehr gut vorstellbar, eine Figur wie Abraham zu verstehen. Oder eine der anderen großen Gestalten des Alten Testaments, wie Jakob, Joseph oder Hiob – nicht zu vergessen die starken Frauen wie Sarah, Judit oder Ester. Die erkennbaren Differenzen verbieten niemandem, über das Gemeinsame nachzudenken und zu erkennen, dass etwas Verlässliches bleibt.

So gibt es, rationaltheologisch gesehen, kaum etwas Schrecklicheres als die Wette zwischen Gott und dem Satan über die Verlässlichkeit Hiobs. Durch sie wird Hiob zum Spielball göttlicher Eitelkeit. Doch eben darin beweist sich schließlich die Stärke eines außergewöhnlichen Menschen. An ihm wird exemplarisch, wie ein Mensch in Treue gegenüber einem für gerecht gehaltenen Gott auch noch gegenüber dem Absurden Stand halten kann. Hiobs Standhaftigkeit entspringt auch einer Treue gegenüber sich selbst, und sie bliebe beispielhaft, auch wenn Gott am Ende kein Einsehen gezeigt hätte. Hier haben wir lange vor dem Auftritt des Begriffs, ein Exempel für eine sich in den Wechselfällen ihres Daseins durchhaltende Einheit einer Person.

Die größte Schwierigkeit im Verstehen einer großen Figur der religiösen Überlieferung ergeben sich für mich mit dem historischen Auftritt eines Menschen namens Jesus. Noch bevor die eigene Fassungskraft vor den Berichten über sein Leiden und Sterben scheitert, versetzt mich die absolute Innovation einer Botschaft, die das Verhältnis zu Gott und zu den Menschen auf die Liebe gründet, in Erstaunen. Wo hat es das je zuvor gegeben? Wer könnte jemals, nach dem Vorbild dieses Jesus Christus leben? Das ist für mich alles andere als eine akademische Frage. Deshalb will ich zu ihrem existenziellen Gewicht hier auch gar nichts sagen.

Wissenschaftlich aber ist es interessant, Spuren in dem unter griechischem Einfluss stehenden alexandrinischen Judentum des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auszumachen. So kann man schon einiges an griechischer Weisheit in der unerhörten Lehre dieses Jesus von Nazareth ausmachen. Mir geht dabei die Parallele zu Sokrates nicht aus dem Kopf; auch die Auszeichnung der Liebe, die bei Platon schon das Medium ist, in dem sich der Zugang zum Göttlichen eröffnet, wäre zu nennen. Die Liebesbotschaft aus Platons Symposion weist natürlich auch auf die christliche Botschaft voraus, vornehmlich auch auf die Individualität der christlichen Lehre, deren Spuren sich freilich auch weit zurück bis zu Quellen im Alten Testament und in den Weisheitslehren der Ägypter verfolgen lassen (Dazu: Volker Gerhardt, Individualität. Individuum/ Individualisierung/ Institution/ Universalität, in: W. Gräb/ B. Weyel (Hrsg.), Handbuch praktische Theologie, Gütersloh 2007, 64 – 76; Ferner: Die Religion der Individualität, in: Philosophisches Jahrbuch, Jahrgang 109, 1. Hb. Freiburg/ München 2002, 1–16).

Aber aus all dem wäre religionsgeschichtlich wohl nichts geworden, wenn nicht Paulus aufgetreten wäre, der für eine Synthese von Sokratismus, Platonismus, Stoizismus und ciceronischem Humanismus gesorgt und diese Lehre mit dem Leben und Sterben dieses Jesus Christus, der allein dadurch übermenschlich erscheint, verbunden hätte. In der Individualisierung Gottes und seiner Nachfolge, im vertraulichen Bezug auf ein Höchstes, das man „Vater“ nennen kann, sind die Impulse für die Entwicklung des Selbstbewusstseins eines modernen Menschen, so meine ich, gar nicht zu übersehen.

Wie weit würden Sie in dieser Beziehung gehen? Ist Jesus für Sie lediglich der historische Jesus oder – das ist jetzt keine philosophische, sondern eine theologische Frage – tatsächlich der Sohn Gottes?

Ich fände es ganz absurd zu unterstellen, dass da eine Art Kopfgeburt Gottes stattfindet, die es ihm erlaubt irgendein neu entstehendes Wesen als sein „Sohn“ zu bezeichnen. So zu reden, kann nur ein sinnbildlicher Ausdruck einer Selbsterfahrung eines begnadeten Individuums sein, das sich in der Welt, die es vorfindet, derart fremd fühlt, dass nur ein Ursprung höherer und höchster Art in Frage kommt. Es ist aber, um das noch hinzuzufügen, keine Behauptung eines „transzendenten“ Ursprungs. Das „Nicht-von-dieser-Welt“ verstehe ich nicht als Verweis auf ein außerhalb aller physischen Gesetzmäßigkeiten stehendes, prinzipiell nicht erkennbares „Jenseits“, sondern als Ausdruck der Gewissheit, dass es eine bessere, verlässlichere und gerechtere Welt geben wird, in der Gott wie ein „Vater“ für die seinen sorgt.

Das heißt, sein Reden wäre lediglich göttlich inspiriert gewesen?

Was heißt hier „lediglich“? „Göttlich inspiriert“ ist doch das Äußerste, was wir von einem Menschen erwarten können. Und ein „Mensch“ ist der leidende Jesus auch nach der christlichen Überlieferung. Seine Haltung und die von ihm überlieferten Worte zeugen von einem Erleben des Geistes, der nicht aus vorgegeben Quellen schöpft. Auch im historischen Vergleich wirkt an diesem Jesus Christus alles ursprünglich erfahren und absolut originell. Hier spricht ein Mensch, der sich im Ganzen seiner Person mit dem Ganzen des Daseins verbunden weiß. Die Hermeneutik hatte für solche Erfahrungen den Ausdruck der „Horizontverschmelzung“, den ich in diesem Kontext für angemessen halte. Man kann so die Rede von einer Identität vermeiden.   

Ihre Aussage legt die Frage nahe, wie wichtig für Sie die Mystik ist? Ist nicht gerade die persönliche Begegnung mit dem Numinosen, wie es Rudolf Otto genannt hat, das Entscheidende?

Die Versenkung in Probleme gehört zu meiner beruflichen Profession. Von dem kindlichen Grübeln, das in meiner familiären Umgebung gelegentlich die Befürchtung auslöste, ich könne schwermütig werden, ist nur der methodisch disziplinierte Hang zum Nachdenken geblieben. Auch die Lektüre des Spiegels der einfachen Seelen der Margareta Porete sowie die Predigten Meister Eckharts, haben mich der mystischen Gläubigkeit nähergebracht. Aber nicht nur deshalb halte ich die Mystik, philosophisch und religionsgeschichtlich gesehen, für ungleich wichtiger als die kultursoziologische Beschäftigung mit dem Heiligen. Rudolf Ottos Buch enthält eine Phänomenologie von Rang. Sie deckt auf, dass es zwischen dem Erhabenen der Natur und dem Schönen der Kunst noch einen Bereich religiösen Erlebens gibt, der mit Recht Zweifel an der flächendeckenden Zwangläufigkeit der Säkularisierung begründet. Für den interreligiösen Vergleich sind sowohl die Mystik wie auch die zeremonielle Auszeichnung des Heiligen wichtige Punkte, auf die sich näher einzugehen lohnte, wenn es unsere Absicht wäre in einen Vergleich der drei abrahamischen Religionen des Juden- und des Christentums wie auch des Islam einzutreten.   

Islam ist ein gutes Stichwort. Der Autor Michael Blume hat in seinem gerade erschienenen Buch Islam in der Krise den Islam als einen Schwerkranken bezeichnet, „der vor Verzweiflung und Schmerz um sich schlägt.“ Wie sehen Sie den Islam jetzt und in Zukunft?

Stellen Sie sich vor, unsere christlichen Glaubensbrüder- und schwestern seien ohne die Erfahrung des Buchdrucks, der Reformation, der Glaubenskriege, der Aufklärung, ohne Französische Revolution und ohne die Säkularisation der Kirchengüter einfach so in die moderne Welt hineingeworfen worden: Mit wieviel Verzweiflung und Schmerz würden sie jetzt reagieren, wenn sie von heute auf morgen sehen müssten, was ihnen die modernen Medien, die Mode, die Freizügigkeit im Umgang die technischen Inovationen abverlangen.

Wir christlichen Europäer haben den, wenn auch fragwürdigen, Vorteil, dass wir die Welt, in der wir jetzt leben, zu einem gewissen Teil selbst geschaffen haben. Diese Möglichkeit hatten die Menschen unter den Lebensbedingungen des Islam nicht. Manche von ihnen stehen überdies noch unter dem Eindruck, den die Kolonialherrschaft der westlichen Staaten hinterlassen haben. Jetzt versuchen einige von ihnen, gewaltsam Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Dabei können sie sich nur unglücklich machen. Leider fehlen ihnen nicht nur die politischen Führer, die ihnen den Weg zu einer evolutionären Angleichung eröffnen. Sie sind überdies zunehmend direkt vom Glaubenskrieg zwischen Sunniten und Schiiten betroffen, die sich hochbewaffnet gegenüberstehen und teilweise in Stellvertreterkriege verwickelt sind. Und noch fehlt ihnen das im europäischen Bürgertum auch erst allmählich angewachsene Interesse an individueller Bildung. Das ist eine hochexplosive Lage, die dem Islam eigentlich unter allen Bedingungen schwere Verluste bringen wird, es sei denn, er bringt aus eigener Einsicht die Kraft zur Liberalisierung und Modernisierung auf.

Der Unterschied, auf den Sie anspielen, hängt also mit den gravierenden Unterschieden in der globalen Zivilisierung der Menschheit zusammen. Der Kolonialismus hat ganze Kulturen in Asien, Afrika und Südamerika zerstört und die Menschen entmündigt. Also darf es nicht wundern, wenn es ihnen jetzt nicht gelingt, aus eigener Kraft den Anschluss zu finden. – Ich will das nicht vertiefen, zumal es auch genügend Anhaltspunkte für eine Differenzierung nach Weltgegenden und nach Religionen gäbe. Da Sie mich nur nach dem Islam gefragt haben, beschränke ich mich auf die Bemerkung, dass wir die Kriegsgefahr im Nahen Osten und in Nordafrika bannen müssen, damit es nicht zum Einsatz von Kernwaffen kommt. Und was die innere Entwicklung des Islam angeht, brauchen wir Geduld. Der Islam hat einst große Kulturen aufgebaut und die Mehrheit der Moslems ist längst dabei, neue kulturelle Initiativen zu entfalten. Es gibt also Hoffnung, die uns mit Kant empfehlen lässt, im Vorgriff auf eine gemeinsame Weltordnung föderal zu handeln. Hier könnten die großen Religionen ein Beispiel geben und sich in einem erweiterten Weltkirchenrat um Ausgleich und Verständigung bemühen. Dazu habe ich mich bereits verschiedentlich programmatisch geäußert (Unter anderem in den Schlussbemerkungen von Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang, Stuttgart 20172).

Von Paul Tillich stammt das berühmte Zitat: Glauben ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht…

…das ist Schleiermachers Rede vom Glauben als dem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ mit existenzialistischem Zungenschlag. Tillichs Definition kann ich mir ohne Abstriche zu eigen machen, bemerke aber, dass sie auch Luther nahesteht. Denn auch Luther hat den Glauben als Gefühl im Bewusstsein der Nähe Gottes verstanden. Auch bei ihm ist der Glauben eine einzigartige, durch und durch individuelle Beziehung zu Gott. Wenn das nicht immer deutlich ist, muss man Luthers mittelalterliche Sozialisation in Rechnung stellen und die unerhörte Last, die der als unter päpstlichem und kaiserlichem Bann stehende Reformator und dann als Kirchengründer wider Willen zu tragen hatte.

Ist das auch nahe bei dem, was Sie denken?

Ja, das weiß ich jetzt gerade auch mit Blick auf Luther. Ich habe mich im Reformationsjahr mit Luthers Schriften beschäftigt und muss sagen, dass er in seinen Glaubensäußerungen höchst eindrucksvoll ist. Er stellt alles, völlig zurecht, auf die Gnade Gottes ab, setzt den Glauben nicht mit dem Wissen gleich, betont daher, ganz im Sinne der Mystik, dessen individuellen Charakter, sieht in allem, was man von Gott berichtet, nur „Zeichen“, die nicht zu einer dogmatischen Auslegung berechtigen, und stützt sich in allem auf das singuläre Zeugnis Christi, von dem man ergriffen werden muss, um ihm folgen zu können.

Dass Luther sich in seinem Glaubenseifer mitunter schrecklich vergreift, belegt seine wüste Polemik gegen Erasmus, in der er dem großen Humanisten nicht nur persönlich unrecht tut, sondern auch sich selber und der Sache der Reformation schweren Schaden zufügt. Luther betont zwar zurecht, dass wir alle unter der Gnade Gottes stehen, zeigt aber kein Verständnis für den bürgerlichen Horizont der Freiheit und lässt die Klugheit vermissen, die Paulus im Verhältnis zum Staat zu wahren wusste und für die Erasmus ihm aus nächster Nähe ein Beispiel gibt.

Gleichwohl schätze ich die durch und durch existenzielle Fassung von Luthers Glaubensbegriffs, der von mitreißender Dramatik ist, sobald er auf den Punkt des Sterbens kommt: An der Schwelle des Todes ist jeder mit sich allein. Da hilft keine Tröstung, erst recht keine durch die Amtshandlung eines Priesters. Jeder muss selbst mit sich im Reinen sein, um ohne Netz und doppelten Boden vor den göttlichen Richter zu treten. Und es gibt weder ein Wissen über das was folgt noch einen Anspruch auf ein mildes Urteil. Man möchte den Theologen, die heute mit politische Dekreten über das Todesverlangen eines unheilbar kranken Menschen verfügen, empfehlen, Luther zu lesen (Insbesondere die erste Wittenberger Predigt nach Invokavit 1572). 

Warum ist diese Welt für Sie mit allen Unzulänglichkeiten und allem Bösen besser als keine Welt? Gibt es für Sie einen Sinn, von Theodizee zu sprechen?

Das Theodizeeproblem erledigt sich für mich mit meiner Antwort auf ihre Frage, wie ich zu den Unzulänglichkeiten dieser Welt stehe und was ich vom Bösen in der Welt halte: Eine Welt ohne mich kann ich nicht unparteilich bewerten, weil ich zu dieser Welt gehöre. Zwar kann ich sagen, dass ich erst reichlich spät dazu gekommen bin und vermutlich noch vor ihrem Untergang nicht mehr dazu gehören werde. Das erste ist ein Glück und das zweite vermutlich auch – in beiden Fällen bloß mit Blick auf mein Befinden geurteilt. Aber seit etwas mehr als siebzig Jahre gehöre ich dazu und meine Zukunft kann noch ein paar Jahren dauern. Also geriete ich in einen schlichten Selbstwiderspruch, wenn ich die Welt verwerfen würde. Und die Anmaßung, als Mensch über den Wert oder Unwert der Welt urteilen zu wollen, richtet sich von selbst.

Das Beste, was man aus dieser persönlichen Sicht über die Welt sagen kann, ist, dass sie dem Verlangen nach Besserung nicht grundsätzlich entgegensteht und uns in ihrem Elend die denkbar besten Gründe gibt, es mit dem Guten zu versuchen

Mit anderen Worten: Noch bin ich Teil dieser Welt und empfände es unangemessen, das Ganze, zu dem ich wohl oder übel gehöre, zu verwerfen oder gar als die „beste aller möglichen Welten“ zu rühmen. Ich gehöre dazu und habe im Guten wie im Schlechten keinen Grund, mich von meinem Urteil über die Welt auszunehmen. Also ist die Welt wie ich, wenn auch in extremer Vergrößerung: Gut und schlecht. Natürlich lebe ich unter dem Anspruch, möglichst untadelig zu sein. Aber unter diesem Anspruch sollte ich auch die Welt behandeln: Sie soll, ja, sie muss besser werden. Das Beste, was man aus dieser persönlichen Sicht über die Welt sagen kann, ist, dass sie dem Verlangen nach Besserung nicht grundsätzlich entgegensteht und uns in ihrem Elend die denkbar besten Gründe gibt, es mit dem Guten zu versuchen. Wem diese Antwort nicht ausreicht, für den kann ich hinzufügen, dass alle Gründe, Mittel und Ziel zur Verbesserung nirgendwo anders zu finden sind, als in eben dieser Welt.

Sie kommen in Ihrer Philosophie immer wieder auf das Individuum zurück.

So ist es, nicht zuletzt, weil man von sich nicht schweigen kann, insbesondere dann nicht, wenn man um Auskunft über sich und sein Denken gebeten wird. Aber das Individuum ist nicht nur dann nicht zu umgehen, wenn es als solches herausgefordert ist. Strenggenommen ist immer von ihm die Rede und zwar dadurch, dass es spricht, und darin, wovon es spricht. Denn alles in der Welt ist individuell. Das habe ich wiederholt aufgezeigt und erörtert (Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt, München 2000. Vorausgegangen war: Selbstbestimmung. Das Prinzip Individualität, Stuttgart 1999. Der innere Zusammenhang zwischen Individualität und Universalität wurde dann aufgewiesen in: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012). Es ist in der Tat eines meiner zentralen Themen.

Im Gang der Philosophiegeschichte ist mit dem Auftritt des Sokrates am Rang der Individualität nicht zu zweifeln. Der christliche Glaube hat in der Exposition des Individuellen durch seinen am Kreuz gestorbenen Gründer und durch seinen größten Apostel, nämlich Paulus, das Individuelle zum weltgeschichtlichen Wahrzeichen des christlichen Glaubens gemacht.

In der Geschichte der Philosophie finden wir wiederholt große Anwälte des Individuellen; ich nenne nur Augustinus, Meister Eckhart, Nicolaus von Kues, Montaigne, Leibniz, Kant, Hegel oder Nietzsche. Aber als der eigentliche Theoretiker der Individualität hat der junge Wilhelm von Humboldt zu gelten, dessen philosophisches Genie ich selbst lange unterschätzt habe.  

Geraten Sie mit der Auszeichnung des Individuellen nicht in einen Widerspruch zu Ihrer Betonung des Ganzen? Iwan Karamasow würde an dieser Stelle wohl widersprechen und sagen, dass das Leid eines Kindes bereits ausreicht, das alles in Frage zu stellen. Was würden Sie ihm antworten?

Wenn es möglich ist, das Leiden des Kindes augenblicklich zu beheben, hat das Vorrang vor jeder gedanklichen Spekulation. Und da auf dieser Welt in jedem Augenblick viele Tausend, ja, schlimmer noch, Millionen von Kindern schrecklich leiden, könnten, ja, müssten Sie unser Gespräch sofort beenden, um gemeinsam dorthin zu gehen, wo unsere Hilfe dringend gebraucht wird.

Ich will jetzt nicht fragen, warum Sie es nicht längst getan haben und warum Dostojewski so inkonsequent war, seine Zeit unter anderem auch mit Bücherschreiben zu verbringen. Es hat durchaus sein Gutes, das zu tun, was man gelernt hat und es nach bestem Wissen und Gewissen auszuüben.

Auch das hat mit der Auszeichnung des Individuellen zu tun, bei dem man mit Wilhelm von Humboldt nicht nur die Produktivität, sondern auch die dadurch mögliche Vielfalt in den Begabungen und Fähigkeiten hervorheben kann. Das gilt nicht nur für die Pluralität der Gesellschaft, sondern auch für den einzelnen Menschen, der sich nicht auf  bloß eine Tätigkeit festlegen lassen sollte. Es wäre daher ein Missverständnis, wollte man durch die Betonung der Notwendigkeit einer Leistung, die Aufforderung verbinden, alles andere stehen und liegen zu lassen.  

Sie haben sich auch intensiv mit Darwin und Evolution im Allgemeinen auseinandergesetzt. Glauben Sie, dass die Menschheit sich – ganz im Sinne der Aufklärung – immer weiterentwickelt, das Böse irgendwann einmal überwunden werden könnte und die Menschheit in Frieden zusammenlebt? Oder halten Sie diesen Gedanken für völlig abwegig?

Wenn wir uns, in dem, was wir tun, selbst schätzen wollen, müssen wir davon ausgehen, dass dies zu etwas gut ist. Das ist eine Form der Selbstachtung. Dabei können wir nicht davon ausgehen, dass alles, was wir ernsthaft versuchen, um das Leid in der Welt zu lindern, es in Wahrheit nur vergrößert. Nur ein Utilitarist muss es als schweren Einwand gegen seine Theorie empfinden, dass sich mit jeder Generation neuer Lebewesen das Ausmaß möglichen Leidens in der Welt notwendig erhöht. Als jemand, der den Wert der Person einen so hohen Rang zuspricht, dass sie als endliches Korrelat Gottes gedacht und geglaubt werden kann, bin ich gegen eine solche fatale Rechnung gefeit. Als Personen  können wir in der Achtung vor dem Ganzen, vor unseresgleichen und vor uns selbst davon ausgehen, dass es etwas gibt, das einen Sinn ergibt – und wenn es der ist, dass wir oder andere aus unseren Unzulänglichkeiten und Fehlern lernen.

Und mindestens darin liegt eine Chance zum Fortschritt zu einem besseren Verständnis von dem, was war und was zu tun ist. Dass dabei, nach einer schrecklich-schönen Einsicht Montaignes, gerade eigentlich nur das Gute die Voraussetzungen erfüllt, zu etwas wirklich Bösem missbraucht zu werden, zeigt uns die abgründige Dialektik des Lebens, die ihr Gutes wiederum darin hat, dass wir aus dem Bösen mit hoffentlich größerer Nachhaltigkeit lernen können. 

Außerdem bleibt uns ohnehin nichts anderes übrig, auch bei der Bewertung nach gut und schlecht sowie von gut und böse, in unserem menschlichen Urteilsbereich zu verbleiben. Die Anmaßung, aus der Perspektive des Ganzen zu urteilen, ist selbst schon eine Quelle des Bösen. Rechthaberei, Unduldsamkeit und Intoleranz haben ihren Ursprung in der Nichtbeachtung des unüberwindlichen Abstands zwischen dem Menschen und dem Ganzen. Wir können letztlich nicht wissen, was für die Welt gut ist, und müssen uns notgedrungen damit begnügen, sorgfältig zu erwägen, was für uns selbst das Angemessene ist.

Und da wir im Urteil über das, was zu tun richtig ist, auf die Fähigkeit des Einzelnen setzen müssen, der das Subjekt des ihn leitenden Wissens und Glaubens ist, kann es als ein Fortschritt der Geschichte gelten, wenn jeder selbst fähig, in der Lage und berechtigt ist, über sein Leben selbst zu bestimmen. Also kommt es darauf an, die Eigenständigkeit eines jeden Einzeln zu fördern und zu stärken. Das führt zwangsläufig zu einer Vervielfältigung und Steigerung von Fähigkeiten der Individuen, die damit auch zu lernen haben, in dieser von ihnen selbst geschätzten Eigenständigkeit auch die der Autonomie der Anderen zu fordern, zu fördern und zu achten.

Da dies, wie uns nicht zuletzt die Missbrauchsdebatten der letzten Jahre lehren, nicht einfach ist, verlangt die zunehmende Souveränität der Individuen nach dem, was sie idealerweise überflüssig machen sollte: Nach Fortschritten im Recht. Natürlich wünschen wir, dass jeder von selbst das Richtige tut, so dass Rechtsverletzungen überflüssig werden. Doch solange die Menschheit soweit noch nicht ist, brauchen wir ein System effektiver Rechtsprechung, um sowohl das Ganze einer Gesellschaft wir auch die Handlungsfähigkeit der Individuen zu schützen.  

Auf die Notwendigkeit eines sich selbst in ständiger Entwicklung befindenden Rechts müssen wir setzen, auch wenn wir nicht wissen, ob das zu Fortschritten in der Moralität der Menschen führt.  Das Moralische ist etwas, das wir in verbindlicher Weise ohnehin nur exemplarisch fassen können. Die Menschheit ist immer das, was sich in der Person des einzelnen Menschen zeigt.

Wenn man schon den umstrittenen Begriff des Fortschritts verwendet, sollte man hinzufügen, dass er durch die Evolution des Lebens einen langen Vorlauf hat. Der hat in einem vorerst letzten Akt dazu geführt, die menschliche Kultur als eine späte Form der Natur zu ermöglichen. Die Kultur ist insofern ein neues Subjekt der Evolution, als es in der kulturellen Evolution das einzelne Individuum entlastet. Die Bedeutung der Gene, deren Mutation bis dahin alle neuen Entwicklungen ausgelöst haben, tritt zurück. Es sind nunmehr die kulturellen Leistungen des Menschen, die das enorm beschleunigte Entwicklungstempo der jüngeren Geschichte verursachen. Die Ursachen für den kulturellen Fortschritt, liegen in den technischen und szientifischen Leistungen des Menschen, der auch dadurch an Bedeutung gewinnt.

Ihr wird er gerecht, wenn er seine Verantwortung nun mehr auch mit Blick auf die Menschheit ernst nimmt, einer Menschheit, die in ihm als Person exemplarisch wird. Wenn er aber als diese Person seine Fähigkeiten überschätzt und nicht anerkennt, wie begrenzt insbesondere auch sein Wissen ist, wird er wohl nie darüber hinauskommen, das Tragische seines Daseins zu beklagen. Zwar kann er die Kunst (nach Schopenhauer und Nietzsche), als sein „Quietiv“ oder „Stimulanz“ zu schätzen wissen. Aber einen umfassenden Trost, ein Heil, gar eine Erlösung, wie sie ihm die Musik verheißt, kann er nur im Glauben an ein Ganzes finden, das alles trägt, alles ordnet und damit auch allem und jedem seinen Sinn zu geben versteht.

Wenn wir aber mit so großem Nachdruck auf unserer Würde bestehen, sollten wir dem Ganzen auch seinen Anteil zugestehen und ihm das Attribut des Göttlichen nicht versagen

Da wir in der unermesslichen Größe und der unausdenklichen Wirksamkeit dieses Ganzen die unwahrscheinliche Möglichkeit haben, uns selbst als eine sinnbedürftige Einheit zu erfahren, müssen wir diesem Ganzen mindestens die Würde zugestehen, die wir für uns in Anspruch nehmen. Dabei ist das eine, die personale Ganzheit, so unwahrscheinlich wie das andere, nämlich die in unserem Denken benötigte Einheit des Ganzen überhaupt. Wenn wir aber mit so großem Nachdruck auf unserer Würde bestehen, sollten wir dem Ganzen auch seinen Anteil zugestehen und ihm das Attribut des Göttlichen nicht versagen.     


Das Gespräch fand am 2. November 2017 in Berlin statt.

Volker Gerhardt, geboren 1944, studierte Philosophie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt und Münster. Er ist Seniorprofessor an der Humboldt-Universität Berlin und einer der angesehensten deutschen Philosophen der Gegenwart. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethik, der politischen Philosophie, der Metaphysik und der Theologie.

Veröffentlichungen (Auswahl): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (1999); Individualität. Das Element der Welt (2000); Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002); Friedrich Nietzsche (2006); Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007); Theodizee nach Auschwitz. Versuch einer Wahrung des menschlichen Lebenssinns (2011); Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins (2012); Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche (2014); Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang (2016)

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Ökologie und Gesellschaft.

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