Der im Februar dieses Jahres verstorbene Hans-Albert Walter galt als der Experte schlechthin für deutsche Exilliteratur während der Zeit des Nationalsozialismus. Sein in mehreren Bänden erschienenes Hauptwerk Deutsche Exilliteratur 1933-1950 gilt seit Jahrzehnten als Standardwerk für diesen, von den Universitäten lange ignorierten, Bereich deutscher Literatur.

Kurz vor den menschenverachtenden Anschlägen auf ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 hat der Autor das vorliegende Essay Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling fertiggestellt, das jetzt im Düsseldorfer C.W. Leske Verlag neu aufgelegt wurde. Und dafür muss man dem Verlag dankbar sein, denn mit Blick auf die derzeitige Situation in Deutschland ist dieses Buch vielleicht noch aktueller und wichtiger als zum Zeitpunkt seines Erscheinens Anfang der neunziger Jahre.

Der Text beginnt ganz schlicht mit der Erklärung der etymologischen Bedeutung des Wortes »Elend«. Sein Ursprung ist demnach das althochdeutsche Wort »elilenti«, das so viel bedeutet wie »Verbannung« und »anderes Land«. Verbannt werden, in der Verbannung leben müssen, heißt somit nichts anderes, als im Elend leben zu müssen. Dieses Elend und die Tatsache, dass »Exilerfahrung vor allem Leiderfahrung ist«, zeigt uns der Autor auf gut einhundert Seiten und entwirft ein beeindruckendes Bild der schwierigen Situation der deutschen Emigranten während der Zeit der Barbarei im Land Goethes und Schillers.

Für die verbannten Autoren, so Walter, war es in erster Linie der Verlust ihrer Sprache und ihres Publikums. Und nur wenige beherrschten die Sprache des Landes, das ihnen Asyl gewährte. Die überwiegende Mehrheit der Schriftsteller hatte auch kaum Interesse daran, sich anzupassen und schrieb weiter in ihrer Muttersprache, den Blick stets nach Deutschland gerichtet. Auch das sollten sich all jene vor Augen halten, die vollmundig die sofortige Integration von Flüchtlingen fordern und ihnen   »nach dem Verlust der Lebensbasis auch noch die Fähigkeit des Chamäleons abverlangen.«

Hans-Albert Walter: Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling. Rezension von Eckart Löhr
(Foto: C.W. Leske Verlag)

Als noch belastender beschreibt Walter die persönliche Situation derjenigen, die in Deutschland ein politisches Amt innehatten und jetzt von außen machtlos mit ansehen mussten, wie ihr Land in Unmenschlichkeit und Kulturlosigkeit versank. Zur Untätigkeit verdammt, blieb ihnen nur noch die Möglichkeit, sich in Illusionen über den wahren Zustand ihres Heimatlandes zu flüchten. Was sie dabei alle einte, war ein nicht zu stillendes Heimweh, das jeder auf seine Art zu kompensieren suchte. Einigen gelang es trotz allem, künstlerisch fruchtbar zu bleiben, aber auch das konnte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie deklassiert waren, »wie berühmt sie auch sein mochten. Aus ihrer Nation gestoßen, waren sie über Nacht zu Menschen minderen Wertes geworden.«

Darüber hinaus erfahren wir, dass nicht wenige von ihnen eine doppelte Erniedrigung erleiden mussten, da sie in dem betreffenden Gastland nicht selten als Spione oder verkappte Helfer Hitlers verdächtigt wurden, während man sie in ihrem Heimatland, auch noch nach Ende des Krieges, als Verräter ansah. Und »für beinahe zwei Jahrzehnte war es ratsam, in und vor der Bundesrepublik die Lebensspanne Exil zu verheimlichen.«

Der 1935 geborene Autor, der mit einigen Emigranten in persönlichem Kontakt stand, hat mit diesem Essay eine eindeutige Botschaft hinterlassen: Jeder von uns kann jederzeit selbst zu einem Flüchtling werden. Er macht uns noch einmal bewusst, dass es noch nicht lange her ist, dass Deutsche ihr Land verlassen mussten und welche brutalen Folgen die Verbannung mit sich brachte. Ganz nebenbei klärt er uns über den Begriff »Wirtschaftsemigrant« auf, der auch heute noch gerne verwendet wird, um Flüchtlinge herabzusetzen und ihnen den Asylgrund abzusprechen. Es war ein gegen jüdische Emigranten gerichtetes Wort, »ein verlogenes Wort, damals wie heute, als gehe es um Spekulanten, um Kapital- und Steuerflüchtlinge, dunkle Geschäftemacher«, obwohl es nur darum ging, ein menschenwürdiges Leben führen zu wollen.

Sehr erhellend sind auch die Ursachen, die für Walter hinter der Fremdenfeindlichkeit stehen. Für ihn ist es nicht nur die irrationale Angst vor dem Unbekannten, sondern vor allem die Tatsache, dass »das Fremdartige eigene Lebensformen dem Zweifel aussetzt, wenn es sie nicht sogar zur Disposition stellt (…).« Hier genau zeigt sich auch die große Chance, die in der Auseinandersetzung mit Immigranten liegt, wenn man die Bereitschaft mitbringt, die eigenen Wahrheiten, seien sie politischer, gesellschaftlicher oder religiöser Natur, in Frage stellen zu lassen.

Dieses beeindruckende Essay, das der Autor dem Parlamentarischen Rat gewidmet hat, der das Recht auf Asyl im Jahr 1949 im Grundgesetz verankerte, ist nicht nur inhaltlich aufschlussreich, sondern darüber hinaus auch noch großartig geschrieben. Dieses Buch hat, vielleicht vergleichbar mit Stéphane Hessels Empört Euch!, das Potenzial, Meinungen zu verändern und kommt genau zur richtigen Zeit, um zu zeigen, was es heißt ein Flüchtling zu sein: Ein Mensch im Elend!

Hans-Albert Walter: Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling. C.W. Leske Verlag, 2016, 126 Seiten, 18,90 EUR

 

Vorheriger ArtikelAuf einem Auge blind
Nächster ArtikelDer philosophische Materialismus
Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

2 Kommentare

  1. Hans-Albert Walters Verdienste um die Exilsforschung sind unique. Sein Essay von 1992 mit dem Versuch einer Parallelisierung von Exil und Migration ist kurzzuschlüssig und von den historischen Gegebenheiten überholt. Diese Differenz hätte in vorliegender Rezension angesprochen werden müssen. Nur einige wenige Punkte:
    Während die europäischen Emigranten in den dreißiger und vierziger Jahren ihrer Deklassierung ins Auge sahen, ist der Fluchtimpetus der massenhaft Migrierenden von heute neben den Kriegsgründen ein von ferne winkendes Konsumglück und der Traum von sozialer Erhöhung. Unter dieser unterschiedlichen Ausgangslage zeigt sich der weitere Emigrantionsverlauf genau umgekehrt zu den heutigen Fluchtbewegungen:
    Die Emigranten konnten sich zumeist nach einer schwierigen Phase der Akkulturation ihren Gastländern erfolgreich assimilieren, den Pakistanern, Afghanen, Syrern, Afrikanern bleibt zumeist die ernüchternde Erfahrung nicht erspart, jemals auf das ökonomische, soziale und kulturelle Niveau ihrer Aufnahmeländer zu gelangen. So platzen ihnen von Tag zu Tag die Illusionen, die sie nach Europa getrieben haben, und es verdichtet sich ihnen die Erkenntnis, dass sie immer nur geduldet sein werden. Diese Erfahrung ist zwar bereits den deutschen Emigranten nicht erspart geblieben, aber sie konnten den Leidensdruck durch ihre größer Reflexionsfähigkeit und durch ihre Qualifikationen intellektuell abfedern (Manchmal, das zeigten die vielen Selbstmorde, war diese Reflexionserfahrung auch der Grund für eine noch größere Verzweiflung). Zumeist hochkultivierte ehemalige Kulturträger des Landes, das sie ins Ausland verjagt hatte, mussten sie die Lektion lernen, dass sie unter dem Entzug der kulturellen Bindungen des Heimatlandes auch bei größten Integrationsbemühungen als „homeless“ abgestempelt waren. „Was auch immer in der Heimat geschieht“, notierte der Publizist und Theaterregisseur Otto Zoff am 26.8.1940, „man sollte unter jeder Bedingung dortbleiben. Das schlechteste Regime ist besser als die Emigration.“

    • Sehr geehrter Herr Zeder,

      ich möchte an dieser Stelle lediglich auf den Satz von Otto Zoff eingehen, den Sie am Ende Ihres Kommentars zitieren. („Was auch immer in der Heimat geschieht, man sollte unter jeder Bedingung dortbleiben. Das schlechteste Regime ist besser als die Emigration.“) Ich halte diese Aussage in Anbetracht der Tatsache, dass Menschen vor Hunger, Folter und Tod aus ihrer Heimat fliehen für puren Zynismus. Ein weitaus treffenderes Zitat findet sich dann wohl in den „Bremer Stadtmusikanten“: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“.

Kommentieren Sie den Artikel

Kommentar hinterlassen
Name einfügen