Mit dem Titel Das sprachbegabte Tier (The Language Animal, 2016) stellt sich der Autor in die große europäische Tradition, die den Menschen mit Aristoteles als zoon logon echon versteht: als Tier, das Vernunft bzw. Sprache hat (griech. lógos: Wort, Sprache, Vernunft).
Der Autor möchte zeigen, „daß dieses [Sprach]Vermögen mehr Formen annehmen kann, als man vermuten möchte.“ Dazu stützt er sich auf die Theorien Hamanns, Herders und Humboldts (die sog. HHH-Theorie), die er vertiefen und weiterentwickeln will, um ihre Überlegenheit gegenüber der Tradition von Hobbes, Locke und Condillac (HLC-Theorie) aufzuzeigen. Diese beiden Theorien nennt er Konstitutionstheorie (Herder u.a.) vs. Rahmentheorie (Locke u.a.): Locke gehe von den menschlichen Fähigkeiten als einem fertigen „Rahmen“ aus, zu denen dann einfach die Sprache als eine weitere Fähigkeit hinzukomme; Herder dagegen vermittle uns ein Bild, „wonach die Sprache neue Zwecksetzungen, neue Verhaltensebenen, neue Bedeutungen ermöglicht und daher nicht im Rahmen eines sprachunabhängig aufgefaßten Bilds vom menschlichen Leben erklärt werden kann“.
Im ersten Teil zeichnet Taylor ein Bild der Konstitutionstheorie:
- Ein Wort ist mehr als ein Signal; es ermöglicht nämlich eine Reflexion.
- Einen Gegenstand kann man nur vor dem Hintergrund der Welt erkennen, ein Wort nur vor dem Hintergrund des ganzen Wörterbuchs verstehen.
- Seine Bedeutung hat ein Wort im Zusammenhang mit Praktiken, die in eine Lebensform eingebettet sind – Wittgenstein spricht von einem Sprachspiel.
- Manche „Gegenstände“ sind nicht unabhängig von ihren Bezeichnungen; Gefühle können durch aufschlussreiche Bezeichnungen umgestaltet werden.
- Menschliche Nähe und Verständigung kann durch Sprache hergestellt werden.
- Familie oder Gemeinwesen mitsamt ihren Normen werden sprachlich konstituiert.
Taylor greift auf Jerome S. Bruners Begrifflichkeit des enaktiven (handelnden, tätigen) Repräsentierens zurück, um zu zeigen, wie wir Bedeutungen erlernen können: als Aneignung einer Gewohnheit (Habitus); Taylor zeigt das am Beispiel eines Bikers und seiner bedeutungsschweren Art zu gehen auf.
Der primäre Ort der Sprache ist das Gespräch
Der primäre Ort der Sprache sei nicht das monologische Bezeichnen von Dingen, sondern das Gespräch; das zeige sich auch beim Erwerb der Sprache in der Ontogenese, die Taylor im 2. Kapitel untersucht. Die Bemerkungen zur Phylogenese, wie das Sprechen von Menschen sich in der Geschichte entwickelt hat, greifen mit Taylors Rückgriff auf Überlegungen Merlin Donalds zu kurz. Die Fähigkeiten, welche Donald benannt hat, setzen allesamt bereits eine Existenz im Sprachlichen voraus und können deshalb nicht erklären, wie man in diesen Bereich hineinkommt.
Im Teil II geht es „Vom Deskriptiven zum Konstitutiven“. Zunächst stellt Taylor die Prinzipien der auf Hume, Locke und Condillac zurückgehenden Bezeichnungstheorie der Sprache vor: Sprache ermögliche ein effektives Denken und Mitteilen, wenn die Wörter eindeutig etwas bezeichneten oder mit einer Idee verbunden seien. Die Grundlagen dieser Theorie seien von Gottlob Frege (1848-1925) zerstört worden, auch wenn sie teilweise noch fortlebten: Es gilt der Primat des Satzes gegenüber dem Begriff; zuerst werde auf etwas Bezug genommen, erst danach erfolge die Bezeichnung durch ein Wort; hinzukommen müsse noch eine Kraft, die daraus eine Behauptung (oder eine Frage oder einen Befehl) macht. Der Sinn eines Satzes sei durchaus nicht gleich einer Idee, sondern eine normative Realität. In der Theorie der Sprechakte (Austin, Searle) seien Freges Überlegungen teilweise weitergeführt worden.
Auch erfasse die HLC-Theorie nicht die figurative Kraft der Sprache, also die Möglichkeit des uneigentlichen (bildhaften) Sprechens; in Metaphern werde nämlich nicht nur Gegebenes bezeichnet, sondern teilweise Unbekanntes erst (konstitutiv) erschlossen. Das bildhafte Sprechen mache es nötig, das von Saussure formulierte Prinzip der Beliebigkeit der sprachlichen Bezeichnung einzuschränken.
Taylor fragt dann, wie es möglich ist, neue Bedeutungen zu formulieren. Man könne sie enaktiv darstellen, neue Begriffe bei Entdeckungen einführen oder etwas ausführlich erklären. Zwischen enaktiver Verkörperung und entkörperlichter Symbolbildung stehe das Kunstwerk: Es verschafft Zugang zu neuen Bedeutungen, die sonst nicht verfügbar sind. „Die Nachahmung schildert, ohne etwas zu behaupten.“ Am Beispiel ethischer Einsichten und künstlerischen Verstehens geht Taylor intensiv der Frage nach der Erkenntnis neuer Bedeutungen nach, deren Richtigkeit im hermeneutischen Zirkel – dann natürlich nicht eindeutig – überprüft werde. Die exakte deskriptive Sprache der Wissenschaften sei nur ein (Sonder)Fall menschlichen Sprechens.
Diskurs bedeutet normalerweise „Gedankenaustausch, Unterhaltung; Erörterung“ (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, DWDS); im Anschluss an Émile Benveniste bezeichnet Taylor als Diskurs das, „was wir mit unserem Sprechen leisten, hervorbringen oder ‚erschaffen'“. [Änhnlich spricht er mit Michael Silverstein von „Metapragmatik“, wo der Begriff Pragmatik ausreicht – solch eigenwilliger Sprachgebrauch trägt nur zur Verwirrung bei.] „Die schöpferische Kraft des Diskurses“ bestehe darin, nicht nur menschliche Verhältnisse festzulegen und zu erhalten, sondern auch neue Erwartungen und Normen hervorzubringen, wie Taylor am Beispiel der Demonstrationen 2011 auf dem Tahrirplatz zeigt. Er erkennt sogar eine Leistung, die dem der früheren Rituale gleiche: die kosmische Ordnung wiederherstellen.
„Weitere Anwendungen“ unternimmt Taylor in Teil III. Zunächst untersucht er, wie Erzählen Bedeutung erschafft: „Wie es aussieht, kann die angemessene, reflektierte Selbstdeutung einer Einzelperson, einer Gruppe oder einer ganzen Spezies nicht ohne Erzählungen auskommen.“ Das liege daran, „daß sich der Gewinn [von Erkenntnissen zur richtigen Lebensführung, N.T.] unter anderem in der Form solcher umfassenden diachronischen Betrachtungsweisen einstellt, die neue Intuitionen mit dem Hintergrund, aus dem sie auftauchen, verbinden.“ – Solche Überlegungen führen aus dem Gebiet der traditionellen Sprachphilosophie hinaus, sind aber dem Autor sehr wichtig; dabei reklamiert er teilweise Leistungen für „die Sprache“, welche man auch anders erklären kann, zum Beispiel Berger-Luckmann in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Fischer: Frankfurt 1969), für welche Taylor sich auf die Kraft des Diskurses beruft.
Nach einigen Anmerkungen zur Sapir-Whorf-Hypothese von der Relativität aller sprachlichen Bezeichnungen kommt Taylor zum Fazit: „[D]ie Entstehung der Sprache scheint ein sehr viel höheres Maß an Flexibilität ins Spiel gebracht zu haben, eine gewisse Fähigkeit zur Selbstveränderung, ja zur völligen Selbsttransformation, der bei anderen Tieren gar nichts entspricht.“
Taylor hat vor allem die anthropologische Bedeutung des Sprechens herausgearbeitet
Wie seine Gewährsleute Hamann-Herder-Humboldt, zu denen u.a. noch Wittgenstein, Heidegger und Merlau-Ponty hinzukommen, hat Taylor vor allem die anthropologische Bedeutung des Sprechens herausgearbeitet; ihr sind auch die Untersuchungen zu Referenz und Bedeutung, zur Metapher oder zur vermeintlich „idealen“ Sprache untergeordnet. Der Autor greift oft auf spätere Überlegungen vor oder bereits vorgetragene zurück, sodass die Lektüre ein hohes Maß an Konzentration erfordert. Gestört hat mich die Neigung des Übersetzers (auch des Autors?), „bildungssprachliches“ Vokabular statt gebräuchlicher Wörter zu verwenden wie z.B. der „kollaborative Aufbau des Weltbildes“ oder Gibsons Begriff der „Affordanzen“ statt „Angebote, Aufforderungen“. Die Geschichte der romantischen Sprachphilosophie findet man klarer in Ernst Cassirers Buch „Die Sprache“ (Bruno Cassirer: Berlin 1923) dargestellt.
Der Autor setzt sich in Das sprachbegabte Tier intensiv mit der philosophischen Tradition und zeitgenössischen Sprachphilosophen auseinander; deshalb ist das Buch nur philosophisch vorgebildeten Lesern zu empfehlen. Charles Taylor selbst sieht sein Buch als ersten Teil eines Projekts, dessen zweiter Teil sich mit der nachromantischen Poetik befassen soll.
Charles Taylor: Das sprachbegabte Tier, Suhrkamp Verlag, Juni 2017, 655 Seiten, 38,00 EUR