Am 3. Juni 2024 ist der bedeutende evangelische Theologe Jürgen Moltmann in Tübingen gestorben. Im Dezember 2015, anlässlich seines 90. Geburtstages am 8. April 2016, hatte ich das große Vergnügen und die große Ehre, mit Jürgen Moltmann an zwei Tagen ein längeres Gespräch in seinem Haus in Tübingen zu führen. Dieses Gespräch erschien unter dem Titel Hoffnung für eine unfertige Welt im Patmos Verlag. Dazu hatte ich seinerzeit ein kurzes Vorwort verfasst, das einen kleinen Einblick in das Leben und das Werk Jürgen Moltmanns gibt:

Als im Oktober 1964 die Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie des damals 38-jährigen evangelischen Theologen Jürgen Moltmann erscheint, kommt das im wahrsten Sinn des Wortes einer »Offenbarung« gleich und macht den Autor schlagartig berühmt. Es ist die Zeit der Beatles, des Vietnamkriegs und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Jean-Paul Sartre lehnt den Literaturnobelpreis ab, Willy Brandt wird Vorsitzender der SPD und der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnet den »Civil Rights Act«, das Bürgerrechtsgesetz zur Aufhebung der Rassentrennung. Eine hochpolitische Zeit also, und nur noch vier weitere Jahre sollten vergehen bis zum Mord an Martin Luther King und zum Höhepunkt der Studentenproteste, die Amerika und Europa grundlegend veränderten.

Die englische Übersetzung der Theologie der Hoffnung (Theology of Hope,1967) ist besonders in Amerika eine Sensation und verschafft dem Autor auch international Anerkennung. Mehrere große Zeitungen wie New York Times, Newsweek und Los Angeles Times widmen dem Buch umfangreiche Artikel und machen es so einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. In der Januarausgabe des Spiegel aus dem Jahr 1968, dank Internet auch heute noch problemlos nachzulesen, heißt es: »Moltmann propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert.«

Spätestens hier also beginnt die Theologie politisch zu werden, und es ist beinahe so, als hätte diese Zeit, als hätten die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche auf dieses Buch gewartet, denn, so schreibt Moltmann selbst, »es befreite Christen von Zweifeln und erregte Nichtchristen zur Hoffnung«. Moltmann stellt dort die Eschatologie ins Zentrum des Christentums und zugleich ins Zentrum seines gesamten Denkens. Für ihn ist Eschatologie nicht die Lehre von den letzten Dingen, abgekoppelt von der diesseitigen Welt, sondern gleichbedeutend mit der Hoffnung auf eine göttliche Zukunft, die schon jetzt in die Welt zurückwirkt. So schreibt der evangelische Theologe und Publizist Heinz Zahrnt bereits zwei Jahre nach Erscheinen der Theologie der Hoffnung in seinem Buch Die Sache mit Gott treffend: »Als gäbe es für ihn keine andere Zeitform, keine Vergangenheit, kaum eine Gegenwart, reißt er alles, was ist, aus der Ruhe des Seins in die Bewegung des Werdens.«

»Die Wiedervereinigung, das war für uns eigentlich das Ideal. Gottesdienst in der Nicolaikirche und dann heraustreten und auf den Straßen demonstrieren für Freiheit und für Gerechtigkeit. Das war seit den sechziger Jahren mein Bild von Politischer Theologie.«

(Ein kurzer Ausschnitt aus dem Gespräch, das ich mit Jürgen Moltmann geführt habe)

Für den theologischen Revolutionär (oder revolutionären Theologen) Moltmann heißt Christsein demnach nicht, auf die jenseitige Erlösung aus dem irdischen Jammertal zu warten, sondern die göttliche Verheißung der Zukunft – die sich in Christus manifestiert, der sie in gewisser Weise vorweggenommen hat – bereits im Hier und Jetzt zu verwirklichen. In der Theologie der Hoffnung klingt das so: »Im praktischen Widerstand und in schöpferischer Neugestaltung stellt die christliche Hoffnung das Bestehende in Frage und dient so dem Kommenden. Sie überholt das Vorfindliche in Richtung auf das erwartete Neue und sucht nach Gelegenheiten, der verheißenen Zukunft in der Geschichte immer besser zu entsprechen.« Sein Motto ist demnach, was Heinrich Heine 120 Jahre vorher in Deutschland. Ein Wintermärchen schrieb: »Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten.«

Jürgen Moltmann wird am 8. April 1926 in Hamburg geboren. Sein Elternhaus hat kaum Berührungspunkte mit der Kirche; seine religiöse Bildung als Kind und Jugendlicher ist nach eigener Aussage »mangelhaft«. Der Gottesdienst findet – einmal im Jahr! – in der Aula der Schule statt, denn eine Kirche gibt es in Volksdorf, dem Ort seiner Kinder- und Jugendjahre, noch nicht. Sein Großvater Johannes Moltmann war gar Freimaurer und Verfasser kirchenkritischer Schriften und nicht zuletzt das Vorbild seines eigenen Vaters. Die Noten in der Grundschule sind mäßig und das Interesse des Jugendlichen gilt anfangs den Naturwissenschaften, vor allem der Mathematik und Physik. Das alles deutet vorerst nicht darauf hin, dass hier einer der bedeutendsten und einflussreichsten Theologen der Nachkriegszeit heranreifen sollte.

Die »Theologie der Hoffnung« erschien im Jahr 1964 und begründete Moltmanns Ruhm als Theologe. Das Foto zeigt die aktuelle Auflage. (Cover: Gütersloher Verlagshaus)

Im Februar 1943 wird er, wie Tausende andere Jugendliche, eingezogen und zum »Luftwaffenhelfer« ausgebildet. Wenige Monate später beginnt die »Operation Gomorrha«, in deren Verlauf durch englische und amerikanische Bomberverbände große Teile Hamburgs zerstört werden und geschätzt bis zu 40.000 Menschen ums Leben kommen. Zu dieser Zeit ist Jürgen Moltmann zusammen mit einem Freund als Flakhelfer an der Außenalster stationiert. Bei einem der Bombenangriffe kommt sein direkt neben ihm stehender Freund ums Leben, während er selbst wie durch ein Wunder leicht verletzt überlebt. »In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und mein Leben in Gottes Hände gelegt«, schreibt er in seiner 2006 erschienenen Biographie Weiter Raum. Und weiter heißt es dort: »Ich war wie tot und empfing danach das Leben jeden Tag als ein neues Geschenk. Meine Frage war nicht: Warum lässt Gott das zu?, sondern: Mein Gott, wo bist du? Und die andere Frage, auf die ich bis heute Antwort suche: Warum bin ich am Leben und nicht auch tot, wie der Freund neben mir? Ich fühlte die ›Schuld‹ des Überlebens und suchte nach dem Sinn des Weiterlebens. Ich wusste, dass es einen solchen Sinn für mein Weiterleben geben musste. In der Nacht wurde ich zum Gottsucher.«

Gegen Ende des Krieges gerät der damals 18-Jährige in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst drei Jahre später nach Hause zurückkehrt. Diese Jahre werden zum Wendepunkt in Moltmanns Leben, denn dort liest er zum ersten Mal in der Bibel und spürt »mit wachsender Gewissheit: Da ist einer, der dich ganz versteht, der in deinen Gottesschrei einstimmt und die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist.« So beginnt er noch im Gefangenenlager ein Studium der Theologie und beschließt, Pfarrer zu werden. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft setzt er sein Studium in Göttingen fort. Dort hat es ihm vor allem der evangelische Theologe Hans Joachim Iwand (1899–1960) angetan, der ihn tief beeinflusst. Über ihn lernt Moltmann Luthers Kreuzestheologie kennen und ist vor allem von Iwands Rechtfertigungslehre beeindruckt. Darüber hinaus hinterlässt aber auch Iwands politische Theologie sowie sein gesellschaftliches Engagement – unter anderem in der Bekennenden Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus – Spuren in dem jungen Studenten. Neben Iwand gehören Ernst Wolf (1902–1971) und Otto Weber (1902–1966), bei dem er auch promoviert, zu seinen wichtigsten Lehrern aus dieser Zeit.

1949 lernt er in einer studentischen Wohngemeinschaft in Kopenhagen die gleichaltrige Elisabeth Wendel (1926-2016) kennen, die ebenfalls evangelische Theologie studiert und sich später als feministische Theologin einen Namen machen sollte. Sie heiraten drei Jahre später (aus der Ehe werden vier Kinder hervorgehen) und halten seit Anfang der achtziger Jahre auch gemeinsam Vorträge, die vorwiegend feministische Themen zum Inhalt haben. 1952 beendet Moltmann sein Studium mit einer Dissertation über den reformierten französischen Theologen Moyse Amyraut (1596–1664). Zusammen mit seiner Frau stellt er mehrere Anträge auf Zuzug in die einige Jahre zuvor gegründete »Deutsche Demokratische Republik«, die aber allesamt – man muss wohl sagen: Gott sei Dank! – abgelehnt werden. Es folgen einige anfangs entbehrungs-, vor allem aber lehrreiche Jahre als Pfarrer in der evangelisch-reformierten Gemeinde Bremen-Wasserhorst. Nach seiner 1958 erfolgten Habilitation über Christoph Pezel und der Calvinismus in Bremen wird Jürgen Moltmann zusammen mit dem evangelischen Theologen Rudolf Bohren (1920–2010) an die Kirchliche Hochschule Wuppertal berufen. 1961 erscheint sein erstes eigenständiges Buch mit dem Titel Prädestination und Perseveranz. Geschichte und Bedeutung der reformierten Lehre »de perseverantia sanctorum«.

Hier kommt es auch zu einer Begegnung, die er selbst als »die wichtigste in der Wuppertaler Zeit« bezeichnet hat: Er lernt den 41 Jahre älteren Philosophen Ernst Bloch (1885–1977), Autor von Das Prinzip Hoffnung, kennen und setzt sich in mehreren Aufsätzen intensiv mit seinem Denken auseinander. Im Vorwort einer Neuauflage der Theologie der Hoffnung aus dem Jahr 2005 schreibt Moltmann rückblickend: »Warum hat sich die christliche Theologie die Hoffnung entgehen und nehmen lassen, die doch ursprünglich und wesentlich ihr ureigenstes Thema ist? Das war mein erster Eindruck. Dann aber fragte ich mich selbstkritisch: Wo ist der aktive, urchristliche Geist der Hoffnung heute geblieben? Ich wollte Ernst Blochs Prinzip Hoffnung nicht nachahmen. Ich wollte es auch nicht ›taufen‹, wie Karl Barth damals in Basel argwöhnte. Ich wollte eine Parallelhandlung in der Theologie auf den theologischen Voraussetzungen von Juden und Christen.« Und er erklärt: »Für Ernst Bloch sollte der Atheismus die aktive Hoffnung in der Geschichte begründen, wie für Jean-Paul Sartre damals der Atheismus die einzige Grundlage der menschlichen Freiheit war. Für mich aber war und ist der Gott des Exodus und der Verheißung, der Gott der Auferweckung Christi und des Auferstehungsgeistes in uns der Grund und das Motiv der in der Geschichte aktiven und im Leiden standhaften Hoffnung, des Messianismus ebenso wie der Apokalyptik.«

1963 erfolgt der Wechsel an die Universität Bonn. Zeitgleich beginnt er die Arbeit an der Theologie der Hoffnung, wobei die Vorarbeiten dazu bis in das Jahr 1958 zurückreichen. Ohne den Einfluss Ernst Blochs hätte es dieses Buch wohl nicht gegeben, zumindest nicht in dieser Form. Mitte der sechziger Jahre engagiert sich Jürgen Moltmann im christlichmarxistischen Dialog und glaubt an eine Annäherung der beiden Systeme in Ost und West. In seiner Biographie schreibt er über seine damalige Hoffnung: »Wenn die ihren Sozialismus demokratisieren und wir Westeuropas Demokratien sozialisieren, dann müsste doch ein demokratischer Sozialismus dort und eine Sozialdemokratie hier sich so weit annähern können, dass wir den Ost-West- Konflikt in Europa würden auflösen und den Eisernen Vorhang öffnen können.« Das war gut gemeint, ging aber an den damaligen Realitäten völlig vorbei. Als am 21. August 1968 Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag einmarschieren und Dubčeks liberales Projekt beenden, ist damit auch Moltmanns Idee einer Konvergenz beider Systeme auf brutale Art und Weise im wahrsten Sinn des Wortes »Geschichte«. – Der eiserne Vorhang sollte sich 21 Jahre später trotzdem öffnen, wenn auch aus anderen Gründen.

1967 folgt Jürgen Moltmann dem Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls- Universität Tübingen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 innehat. Dort begegnet er Theologen wie Gerhard Ebeling (1912–2001), Eberhard Jüngel (1934-2021), Hans Küng (1928-2021), Hartmut Gese (geb. 1929) und Norbert Greinacher (1931-2022). Daneben macht er die Bekanntschaft von Walter Jens (1923–2013), der dort den Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik innehat, und begegnet auch Ernst Bloch und dessen Frau Carola wieder. Hier beginnt Jürgen Moltmann auch die Ausarbeitung seiner Politischen Theologie. Dabei ist er nicht zuletzt durch den katholischen Theologen Johann Baptist Metz (1928-2019), einen Schüler von Karl Rahner (1904–1984), beeinflusst. Metz, der als Begründer einer Neuen Politischen Theologie gilt, setzt sich intensiv mit der Philosophie der Frankfurter Schule und dem Marxismus auseinander und steht zu dieser Zeit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung nahe. So kommt es zu einem engen und fruchtbaren Bündnis zwischen Hoffnungstheologie und Politischer Theologie.

Moltmanns zweites großes Buch Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie erscheint 1972. Wenn man so will, stellt es die Ergänzung zur Theologie der Hoffnung dar, indem es das Leiden an der »dunklen Seite Gottes« thematisiert. »Ging es damals um die Erinnerung Christi im Modus der Hoffnung auf seine Zukunft, so geht es jetzt um Hoffnung im Modus der Erinnerung seines Todes. Standen dort die Antizipationen der Zukunft Gottes in Verheißungen und Hoffnungen im Vordergrund, so geht es hier um das Verständnis der Inkarnation jener Zukunft durch die Leidensgeschichte Christi in die Leidensgeschichte der Welt.« Es ist das Buch, in dem Moltmann nicht zuletzt auch seine eigenen Erfahrungen von Leid, Tod und Schuld theologisch fruchtbar macht. Ihn interessiert weniger das Problem der Theodizee als vielmehr die Frage danach, wo Gott ist, wo er im Hier und Jetzt leidet.  Der gekreuzigte Gott ist auch der Versuch einer christlichen Theologie nach Auschwitz und damit verbunden die theologische Auseinandersetzung mit dem Schrei Jesu am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Moltmann fragt nicht primär danach, was der Tod Christi für den Menschen, sondern vor allem, was er für Gott bedeutet. So wird Gott als ein leidensfähiger Gott gezeigt, denn nur ein leidensfähiger Gott ist auch ein liebesfähiger Gott – andernfalls wäre er teilnahmslos, lieblos und zuletzt »ein höchst entbehrliches und überflüssiges Wesen«.

In den folgenden Jahren unternimmt Jürgen Moltmann neben seiner akademischen Arbeit an der Tübinger Universität ausgedehnte Auslandsreisen. Neben einer großen USA-Reise hält er Vorträge in so vielen Städten und besucht so viele Länder, dass man, will man sich einen Überblick verschaffen, besser fragen sollte: Wo ist er nicht gewesen? Das zeigt natürlich nur, welch ungeheuren Einfluss seine Theologie zu dieser Zeit weltweit hatte und heute noch hat. Ende November 2015, kurz bevor dieses Gespräch stattfand, etwa besuchte Jürgen Moltmann das AAR (American Academy of Religion) Annual Meeting in Atlanta. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt …«

»Frieden mit Gott bedeutet Unfrieden mit der Welt, denn der Stachel der verheißenen Zukunft wühlt unerbittlich im Fleisch jeder unerfüllten Gegenwart. Hätten wir nur das vor Augen, was wir sehen, so würden wir uns heiter oder verdrossen mit den Dingen abfinden, wie sie eben sind. Dass wir uns aber nicht abfinden, dass es zwischen uns und der Wirklichkeit zu keiner freundlichen Harmonie kommt, das macht die unauslöschliche Hoffnung.«

Schon während der Arbeit an Der gekreuzigte Gott stößt Moltmann auf das Problem – oder soll man sagen: Phänomen – der Trinität, und da vor allem auf die Rolle des Geistes. Das und sein Interesse an ekklesiologischen Fragestellungen sind die Ausgangspunkte für sein 1975 erscheinendes Buch Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie. Zusammen mit der Theologie der Hoffnung (mit Ostern im Mittelpunkt) und Der gekreuzigte Gott (wo alles um die Geschehnisse am Karfreitag kreist) bildet jetzt Pfingsten die Voraussetzung seiner Überlegungen. So lassen sich diese drei Bücher auch als Trilogie verstehen, die aber von Moltmann nicht geplant war, sondern sich eher zufällig ergab.

Als 1972 Die Grenzen des Wachstums. Der Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit erscheint, ist das für viele ein Weckruf – und für Jürgen Moltmann zugleich der Aufruf, eine Theologie der Schöpfung auszuarbeiten. So erscheint 1977 das Buch Zukunft der Schöpfung mit einer Sammlung von Aufsätzen und einige Jahre später Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. Nach dem Versuch einer sozialen Trinitätslehre in seinem 1980 erschienenen Buch Trinität und Reich Gottes entwickelt er jetzt eine trinitarische Schöpfungslehre und stellt die Frage, was »der Glaube an Gott den Schöpfer und an diese Welt als seine Schöpfung [bedeutet] angesichts der fortschreitenden industriellen Ausbeutung und der nicht wiedergutzumachenden Zerstörung der Natur«. Hat man im Zusammenhang mit Karl Rahners Theologie von einer »anthropologischen Wende« gesprochen, so könnte man hier von einer »kosmologischen Wende« im Denken Moltmanns sprechen, denn »der heilsamen ›christologischen Konzentration‹ in der evangelischen Theologie damals muss heute die kosmische Horizonterweiterung der Theologie auf die ganze Schöpfung Gottes entsprechen.«

Die Geschichte der »durch den freien Willen Gottes ins Dasein gerufenen« Welt ist nach Moltmann dadurch charakterisiert, dass sie sich fortwährend selbst transzendiert. Diese permanente Selbsttranszendenz des Bestehenden deutet auf etwas hin, in das hinein die Welt sich entwickelt: Gott. So ist die Welt für Moltmann ein »gottoffenes System« und ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Auch der Gedanke der Trinität spielt hier wiederum eine große Rolle. Gott ist durch seinen Sohn Jesus Christus der Anfang und das Ende der Schöpfung und durch seinen Geist immer auch darin. Das heißt, Gott nimmt durch die Gegenwart seines eigenen Sohnes am Schicksal der Welt teil und leidet mit ihr. Dabei ist nicht der Mensch der Sinn der Schöpfung, sondern »der Sinn des Menschen liegt, theologisch gesprochen, zusammen mit dem Sinn aller Dinge in Gott selbst.« Dabei nimmt der Sabbat in Moltmanns Schöpfungstheologie eine zentrale Stellung ein, da im Sabbat der Mensch nicht mehr aktiv in die Umwelt eingreift, sondern sie ganz Gottes Schöpfung sein lässt. Der innere Grund der Schöpfung ist für Moltmann die kommende Herrlichkeit Gottes, und so ist auch seine Theologie der Schöpfung eine durch und durch eschatologische. Dabei »kann man sich das Reich der Herrlichkeit, das den Schöpfungsprozess durch die Einwohnung Gottes vollendet, nicht als endlich zum Abschluss gebrachtes und also geschlossenes System vorstellen, sondern als die Offenheit aller endlichen Lebenssysteme für die Fülle des Lebens«. Gerade weil Moltmann auch die Natur als Schöpfung Gottes sieht, gesteht er ihr im Sinne einer holistischen Ethik einen von uns unabhängigen, intrinsischen Wert zu und schließt sie ausdrücklich in das göttliche Heilsgeschehen ein. Das ist ein bemerkenswerter Zug in seinem Denken, da es die immer noch weitverbreitete Anthropozentrik des Christentums überwindet.

1994, mit 68 Jahren, wird Jürgen Moltmann emeritiert und der Abschied fällt ihm nach eigener Aussage nicht leicht. »Früher hatte ich oft gedacht, dass die Hoffnung den Geist eines Menschen in der Zukunft leben lässt, in Erwartungen und Projekten. Später sah ich ein, dass die Hoffnung jene Lebenskraft ist, in einem gegenwärtigen Ende den neuen Anfang zu finden.« Doch in der Zeit nach seinem Abschied von der Universität ändert sich – abgesehen von der jetzt wegfallenden Vorlesungstätigkeit – gar nicht so viel in Moltmanns Leben. Er forscht, schreibt (»nulla dies sine linea«), und das Reisen ist ohnehin fester Bestandteil seines Lebens.

2010 erscheint sein Buch Ethik der Hoffnung, das er bereits Ende der siebziger Jahre schreiben wollte, aber nach eigener Aussage »war er damals noch nicht so weit«. Dieses Buch ist sozusagen der Versuch, die Theologie der Hoffnung konkret werden zu lassen. Es geht ihm dabei nicht um die Wahrung des Status quo, denn christliche Ethik, so wie Moltmann sie versteht, ist immer auch »transformative« Ethik, das heißt »weder angepasste Weltverantwortung noch separatistische Weltflucht, sondern eine Anleitung zur Weltveränderung«. Er zeigt Gefahren auf, die das Leben konkret und im Allgemeinen bedrohen, wie Terrorismus, nuklearer Krieg, soziale Ungleichheit und ökologische Probleme. Dem stellt er das Evangelium des Lebens gegenüber, so wie Jesus es verkündet und persönlich gelebt hat. Darüber hinaus bezieht er Stellung zu Fragen der medizinischen Ethik wie Abtreibung und Sterbehilfe sowie zu Fragen des Friedens und der Gerechtigkeit. Dabei ist er klar in seiner Meinung, ohne dabei dogmatisch zu sein, denn er weiß, dass »wir […] nicht in einer heilen, sondern in einer defekten Welt [leben]. In ihr muss man unter unausweichlich schlechten Bedingungen das Bessere zu tun versuchen.«

Sein vorerst letztes Buch Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit erscheint im Jahr 2014 und ist eine Zusammenschau all jener Themen, die Jürgen Moltmann sein Leben lang bewegt haben. Hier zeigt er noch einmal, dass seine Auffassung des Christentums die einer Religion der Freude ist, bedingt durch die Verheißung der Auferstehung. Sein Gott ist lebendig, veränderlich, und vor allem leidensfähig und der Leidensweg Christi stellt für ihn die Offenbarung der Passion Gottes dar. Mit der Schöpfung der Welt, die nur möglich war, weil Gott sich selbst zurücknahm, begann, so Moltmann, seine »Erniedrigung« (Kenosis) und gleichzeitig die Offenbarung seiner Leidensbereitschaft bis hin zum Tod Jesu am Kreuz. Darüber hinaus vertritt er, wie schon in Gott in der Schöpfung, auch hier eine – nicht zuletzt durch Albert Schweitzer inspirierte – ganzheitliche Ethik, wenn er schreibt: »Sind wir Menschen ein ›Teil des Universums‹, dann werden wir alle Dinge um ihrer selbst willen unabhängig von ihrem Nutzwert für den Menschen achten und allen ›Mitgeschöpfen‹ mit Ehrfurcht vor dem Leben begegnen.« Er weiß, dass der Mensch als das letzte Geschöpf auch das abhängigste ist. Er wendet sich ausdrücklich gegen eine gnostische Sicht, die den Geist als wertvoller als die Materie sieht, und glaubt daher an eine Neuschöpfung des Himmels und der Erde. Im Gegensatz zu einer in unserer Gesellschaft weitverbreiteten »Vorwärtsresignation« (Friedrich Schorlemmer) ist Moltmanns zentraler Begriff die »Vorwärtshoffnung«, denn »christliche Hoffnung ist kein Warten oder nur Abwarten, sondern eine schöpferische Erwartung der Dinge, die Gott mit der Auferweckung Christi verheißen hat«. (Update 2024: Jürgen Moltmann hat seit 2016 noch Verschiedenes veröffentlicht. Sein letztes Buch Weisheit in der Klimakrise erschien im August 2023)

In einem der letzten Kapitel seiner Biographie schreibt Jürgen Moltmann: »Immer steht hinter dem gelebten Leben die Fülle des möglichen, aber noch ungelebten Lebens. Je älter man wird, desto mehr spürt man diese Fülle. Ob man an Jahren jung ist oder älter wird, immer steht man an der Schwelle seiner Möglichkeiten. Manchmal dauert es etwas länger, um jung zu werden und sie mit Lust und Liebe zu ergreifen. Dann aber fühlt man sich wie neugeboren und in diesem Sinne ›jung‹ und hoffnungsvoll. Das sind die Herausforderungen des noch nicht gelebten Lebens. Eigentlich verlangen sie gar nichts, sondern laden dazu ein, aus sich herauszugehen und die Fülle des Lebens auszuleben, die in einem und um einen herum ist. Wird man an Jahren älter, dann kann einem das sogar helfen, jünger zu werden, denn man verliert die Ängste um das eigene Selbst und Bedrohungen von außen beeindrucken einen nicht mehr.«

Jürgen Moltmann hat die Fülle des Lebens, das ihm 1943 zum zweiten Mal geschenkt wurde und für das er nach eigenen Worten dankbar ist, ausgelebt […] und guten Gewissens lässt sich über ihn sagen, was der alte Goethe vor beinahe 200 Jahren in den Zahmen Xenien schrieb: »Wohl kamst du durch; so ging es allenfalls. Mach’s einer nach und breche nicht den Hals.«

(Einige der genannten Theologen sind inzwischen verstorben. Aus diesem Grund habe ich die betreffenden Lebensdaten angepasst).

(Foto: © Simone Thimm)

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

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