Mark Moffett, der bei dem großen Biologen und Insektenkundler E.O. Wilson promoviert hat, verfügt über ein stupendes Wissen tierischer und frühmenschlicher Gesellschaften und gilt als Experte für Käfer, Ameisen und Primaten. Zurzeit forscht er am Department of Entomology am Smithonian National Museum of Natural History. 2010 erhielt er den National Outdoor Book Award sowie Auszeichnungen für seine Photographien sowohl von der World Press Photo Foundation als auch von Pictures of the Year International.
Identität
Gleich zu Beginn macht der Autor klar, dass ein wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt einer Gesellschaft die Identität mit der entsprechenden Gruppe ist. So „stellt man sich eine Gesellschaft besser nicht als Ansammlung kooperierender Einzelner vor, sondern als eine Gruppe, in der jeder ein klares Zugehörigkeitsgefühl hat, das durch eine dauerhafte gemeinsame Identität entsteht.“ Das wäre, so der Autor, noch entscheidender als familiäre Beziehungen oder Freundschaften. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat zu diesem Thema gerade ein wegweisendes Buch veröffentlicht (F. Fukuyama: Identität, Hoffmann & Campe 2019). Und im Herbst dieses Jahres erscheint Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit des Philosophen Kwame Anthony Appiah. Ein Thema also, das gerade vermehrt Aufmerksamkeit beansprucht.
Eine wichtige Vorstufe zur Herausbildung von Wirbeltiergesellschaften sei, so Moffett, die Fähigkeit, sich an andere Gruppenmitglieder erinnern zu können. Das funktioniere allerdings nur bis zu einer gewissen Größe. Moderne Gesellschaften, deren Mitglieder in die Millionen gehen, müssten sich anderer Mechanismen bedienen. Hier würden spezielle Marker dafür sorgen, dass wir einander als gruppenzugehörig erkennen. Hier liegt übrigens auch eine Gemeinsamkeit mit den anonymen Gesellschaften der Ameisen. Und das unterscheidet uns beispielsweise von den Schimpansen, deren Gruppenangehörige sich alle persönlich kennen.
Dabei würden die Marker umso vielfältiger, je stärker die Gesellschaften mit anderen in Kontakt treten. Um Einwanderer aufzunehmen käme es aber darauf an, die Marker veränderbar zu halten. Wir sehen ja gerade an heutigen offenen und demokratischen Gesellschaften, dass die speziellen Marker einem stetigen Wandel unterworfen sind. Sie nehmen Eigenschaften der spezifischen Marker der Immigranten an, während sich im Gegenzug auch die Marker der Einwanderer verändern.
Vielleicht ist das zugleich eine der großen Einsichten, die dieses Buch verschafft: Die Erkenntnis, dass „der scheinbar triviale Vorgang, bedenkenlos ein Café voller fremder Menschen zu betreten, […] eine der am stärksten unterschätzten Errungenschaften unserer Spezies [ist] und […] die Menschheit von den meisten anderen gesellschaftsbildenden Wirbeltieren [unterscheidet]. Es ist unsere Fähigkeit, jedem Menschen erst einmal grundsätzlich positiv gegenüberzutreten und in ihm nicht sofort den Feind zu sehen, der verjagt oder getötet werden muss.
Gesellschaften sind Narrative
Während es bei den frühen Nomadengesellschaften noch nicht zu internen Gruppenbildungen kam und die einzelnen Mitglieder mehr oder weniger gleichberechtigt agierten, fingen die Probleme mit den ersten Siedlungen an. Jetzt strebten die Menschen „nicht mehr nach möglichst viel Freizeit, sondern nach dem Gewinn von Macht und Wertschätzung.“ Moffett unterscheidet dabei nicht so radikal zwischen Jägern, Sammlern und sesshaften Menschen. Er zeigt, dass es auch sesshafte Jäger und Sammler gab und sich der Übergang zur Sesshaftigkeit äußerst langsam vollzogen haben muss.
Moffett geht davon aus, dass jede Gesellschaft „in der Phantasie ihrer Menschen sozial konstruiert wird.“ Das heißt, man erzählt sich Geschichten und ist von Geburt an Teil dieser spezifischen Narrative. In diesem Zusammenhang macht Moffett klar, dass niemand vor Vorurteilen gefeit ist. Allerdings hätten wir die Möglichkeit, uns kritisch zu diesen Vorurteilen zu verhalten, sie zu rationalisieren und damit zu überwinden.
Moffett zeigt, dass sich die Identifikation mit der eigenen Gesellschaft verstärkt, wenn ein äußerer Feind vorhanden ist. An den wechselnden Feindbildern Amerikas (Russland, Nordkorea, Irak, und aktuell der Iran) lässt sich das quasi in Echtzeit hervorragend demonstrieren und ist, nebenbei gesagt, auch keine besonders originelle Erkenntnis. Darüber hinaus macht der Autor deutlich, dass wir schlechte Eigenschaften einer fremden Gesellschaft überbewerten und auch das kann man leider Tag für Tag bei uns selbst und bei anderen Gesellschaften beobachten.
Der Erkenntnisgewinn in Bezug auf menschliche Gesellschaften hält sich in Grenzen
Es gäbe zwar in der Natur auch viele Beispiele friedlichen und kooperativen Verhaltens, dennoch, so Moffett, „können wir aus der Natur kaum eine optimistische Lehre ziehen.“ An dieser Stelle offenbart sich auch eine der Schwächen des Buches. Moffetts zentrale These lautet, dass menschliche Gesellschaften denen sozialer Insekten ähneln. Und so leidet das Buch an dem grundsätzlichen Makel, dass der Autor menschliche Gesellschaften ausschließlich mit dem verengten Blick des Biologen beschreibt. Er lässt auch keine Gelegenheit aus, um menschliche und tierische Gesellschaften auf einer Ebene abzuhandeln. Eine seiner liebsten Formulierungen im Kontext der Beschreibung menschlichen Verhaltens ist konsequenterweise „…so wie andere Tiere“ oder Ähnliches in abgewandelter Form. Es wäre besser gewesen, der Autor hätte sich entschieden, entweder über die Entstehung von tierischen oder von menschlichen Gesellschaften zu berichten. So springt er zwischen diesen beiden Polen hin- und her; und da sich tierisches Verhalten niemals 1:1 auf Menschen übertragen lässt, hält sich der so produzierte Erkenntnisgewinn in Bezug auf menschliche Gesellschaften in engen Grenzen. Und viele scheinbare Erkenntnisse sind oft nur Banalitäten, wie die Feststellung, dass für Menschen die Bindung an ein Land von zentraler Bedeutung sei. Ach, denkt sich da die Leserin, das ist mir in Anbetracht der problematischen Situation der Kurden und Palästinenser ja noch gar nicht aufgefallen. Vom eigenen Heimatgefühl einmal ganz abgesehen.
Wenn in menschlichen Gesellschaften anderes Verhalten zu beobachten ist als in tierischen, scheint der Autor selbst ein wenig überrascht und man möchte ihm zurufen: Das liegt daran, dass Menschen keine Tiere sind! Allerdings erkennt Moffett auch, dass „die Kooperation zwischen Menschengesellschaften über alles hinausgehen [kann], was wir in der Natur beobachten.“ Und weiter: „Bei keiner anderen Spezies koordinieren sich die Gesellschaften, um den Frieden zu bewahren.“ Das klingt dann doch schon etwas hoffnungsvoller und natürlich stehen dem Menschen völlig andere Möglichkeiten zur Verfügung, um Konflikte zu vermeiden bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn „wir Menschen verfügen über eine gewisse Fähigkeit, unserer ererbten Konfliktneigung durch bewusste Selbstkorrektur entgegenzuwirken.“ Dass wir mit dieser Fähigkeit so oft versagen, steht auf einem anderen Blatt…
Moffett glaubt, dass Gesellschaften, wie der menschliche Körper auch, kommen und gehen. Ein Grund für das Auseinanderfallen einer Gesellschaft könnte dabei die Entstehung und Abspaltung von Untergruppen sein. Doch die eigentliche Ursache sieht der Autor im Mangel an kollektiver Identität, „die zuvor verbindend gewirkt“ hatte. So geht Moffett davon aus, dass innerhalb der Menschheitsgeschichte bereits mehr als eine Million Gesellschaften gekommen und gegangen sind.
Der Autor glaubt nicht an eine kosmopolitische Welt
Moffett stellt die These auf, dass Gesellschaften grundsätzlich andere Gesellschaften brauchen, um sich positiv von ihnen abzugrenzen und ihre eigene Identität zu konstruieren. Die Vorstellung einer kosmopolitischen Welt ist für ihn somit ein „Luftschloss“. Da es aber noch nie eine kosmopolitische Welt gegeben hat, weiß man auch nichts über die Mechanismen und Eigenschaften, die zusammen mit einer solchen Gesellschaft emergieren würden. So bleibt dem Autor nur, die gegenwärtigen Trends in diesem Zusammenhang linear in die Zukunft zu denken. Das ist ein fragwürdiges Verfahren und noch kein Beweis für die Unmöglichkeit einer zukünftigen geeinten Menschheit.
Interessant ist die Erkenntnis, dass eine zu große Anpassung an die bestehende Gesellschaft durchaus auch schädlich sein kann. Moffett zeigt das am Beispiel der in Deutschland lebenden Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Genauso gefährlich seien aber auch Ghettobildungen innerhalb einer Gesellschaft. Denn daraus folge mangelnde Identifikation mit der betreffenden Gesellschaft und damit verbunden der Makel, immer ein Fremder zu bleiben. Moffett weist dabei dankenswerterweise auf die Schwierigkeiten hin, mit denen Einwanderer zu kämpfen haben und betont, dass es Zeit braucht, die Umgangsformen, Sitten und Gebräuche der jeweiligen Gesellschaft anzunehmen. Denn erst einmal sind „Neuankömmlinge […] Fremde in einem fremden Land.“ Er betont aber auch die erstaunliche Flexibilität der Gesellschaften im Umgang mit Immigranten.
So informiert der Abenteurer und Wissenschaftler auf 550 Seiten (ohne Anmerkungen) detailreich über tierische und menschliche Gesellschaften und man sollte für die Lektüre dieses Buches einen langen Atem mitbringen. Denn vieles ist interessant, doch einiges auch ein wenig zu ausschweifend erzählt. Wie auch immer. Ein nicht zuletzt auch von persönlicher Erfahrung strotzendes Buch eines leidenschaftlichen Forschers und eine reiche Fundgrube für alle ethnologisch Interessierten!
Mark W. Moffett: Was uns zusammenhält. Eine Naturgeschichte der Gesellschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 683 Seiten, 26 Euro