Es gibt wohl zurzeit kaum jemanden, der sich so vehement und öffentlichkeitswirksam für den Erhalt der freiheitlichen Gesellschaft einsetzt, und auf die vielfältigen Bedrohungen hinweist, denen die Demokratie heute ausgesetzt ist, wie der Sozialpsychologe Harald Welzer. Mit seiner Stiftung Futur Zwei erzählt er positive Geschichten des gesellschaftlichen Wandels und gibt Beispiele, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft aussehen könnte.
Harald Welzer zeigt uns eine andere Zukunft, als die, die uns die Protagonisten der Digitalwirtschaft verkaufen wollen
Hat er sich in seinem letzten Buch (Die smarte Diktatur) noch hauptsächlich mit den negativen Folgen der Digitalisierung auseinandergesetzt, geht es ihm in Alles könnte anders sein darum, eine Alternative zum expansiven, konsumistischen und aus seiner Sicht rettungslos antiquierten Kapitalismus zu entwerfen. Er wagt es, uns eine grundsätzlich andere Zukunft zu zeigen, als die, die uns die Protagonisten der Digitalwirtschaft verkaufen wollen. Welzers Hauptanliegen ist es, Demokratie nicht nur zu verteidigen, sondern sie „auf der Basis eines neuen Naturverhältnisses weiter[zu]entwickeln.“ Er möchte „das unvollendete zivilisatorische Projekt der Moderne fortsetzen.“
Doch erst einmal ist Welzers Buch eine Hymne auf die liberale Demokratie. Er hält sie für „die zivilisierteste Form von Gesellschaft, die es jemals gegeben hat.“ Allerdings stellt er ernüchtert fest, dass wir, spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus vor drei Jahrzehnten, keine Vision von der Zukunft mehr entwickelt hätten. „Der modernen Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich.“ Selbst Jugendliche würden es nicht mehr wagen, zu träumen. Dabei würde, so Welzer, doch jede Veränderung mit einer Idee des guten Lebens beginnen. Und Harald Welzer weiß, wovon er spricht, denn er ist ein Spezialist für Ideen des guten Lebens.
Für Welzer ist die Menschheitsgeschichte auch eine Geschichte der unterschiedlichen Weltdeutungen (hier beruft er sich auf den Universalhistoriker Yuval Noah Harari). Er ist somit davon überzeugt, dass wir erst eine neue Deutung der Welt brauchen, um sie schließlich dahingehend verändern zu können. Dabei müsse jede politische Bewegung, jede Revolution, bereits die von ihr erstrebte Zukunft im Kern enthalten und sichtbar machen.
In diesem Zusammenhang kritisiert er die Ökologiebewegung, die es nie geschafft hätte, „eine eigene Ästhetik zu entwickeln.“ Mehr noch muss, so Welzer, Protest ein „Modernisierungsfaktor“ sein, „der die Produktionsstruktur verändert oder er bleibt völlig ohne Wirkung.“ Als ein Beispiel für solch eine wirkungslose Bewegung sieht er Occupy, die in der Tat sang und klanglos wieder von der Bildfläche verschwunden ist, ohne auch nur die kleinste Spur zu hinterlassen. Als Beispiel für eine gelungene Bewegung nennt er hier völlig zu Recht die Kulturrevolution der 1968er, in deren Folge viel für diese Gesellschaft erreicht wurde. Anders ausgedrückt, haben die 68er diese Gesellschaft so fundamental verändert, dass die meisten gar nicht mehr in der Lage sind, sich vorzustellen, es könnte einmal anders gewesen sein.
Das Soziale ist das Primäre
So entwirft Welzer eine, wie es im Untertitel heißt, Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Dabei geht es ihm nicht darum, eine gänzlich „neue Gesellschaft“ und noch viel weniger einen „neuen Menschen“ zu verwirklichen. Er möchte vielmehr das sammeln, was sich in dieser Gesellschaft als gut und brauchbar erwiesen hat, denn „vielleicht ist ja das meiste schon da, nur falsch zusammengesetzt?“ So möchte er die bereits vorhandenen Bausteine weiterentwickeln, neu kombinieren und das aufgeben, was sich als falsch herausgestellt hat. Er nennt das „modulare Revolution“ und es erinnert ein wenig an die Politik der kleinen Schritte des Philosophen Karl Popper (1902-1994). Aber damit würde man Harald Welzer wohl Unrecht tun, denn Popper, enttäuscht vom utopischen Ideal des Kommunismus, predigte den Verzicht auf jegliche Utopie. Vielleicht hätte Welzer in Anbetracht der Tatsache, dass es sich ja weniger um eine Revolution, als vielmehr um eine Weiterentwicklung und Neukombination des bereits Vorhandenen handelt, das Ganze besser als „modulare Evolution“ bezeichnen sollen. Wie auch immer. Er führt zu diesem Zweck siebzehn dieser Bausteine (die er Legos nennt) auf, von A wie Autonomie über M wie Mobilität bis Z wie Zeit. Und wohl kaum eine Leserin, die nicht am Ende sagen würde: In so einer Welt würde ich gerne leben! Harald Welzer würde wohl antworten: „Warum fängst du dann nicht an, sie Wirklichkeit werden zu lassen?“
Für Welzer ist klar, dass „das Soziale das Primäre ist.“ Das, was sich zwischen Menschen abspielt, ist für ihn der Kitt jeder Gesellschaft und nicht zuletzt auch der Garant für eine funktionierende Demokratie. Diese Einsicht unterlegt er mit einer sehr persönlichen Geschichte: Vor einigen Jahren rettete er einem von einer Klippe gestürzten Kind das Leben, indem er es vor dem Ertrinken bewahrte. „Seither weiß ich, was sich zwischen Menschen abspielen kann, und halte dieses ,zwischen‘ für das Wertvollste, was es gibt. Es ist die eigentliche Produktivkraft der menschlichen Lebensform.“
Umso härter geht er mit denjenigen ins Gericht, die dieses Soziale auf allen Ebenen torpedieren: Die digitale Industrie und ihre Protagonisten wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Sheryl Sandberg. Vor allem bestreitet Welzer die angebliche Modernität der Digitalwirtschaft und zeigt, dass sie in Wahrheit nichts zur Lösung der anstehenden Probleme beiträgt, sondern im Gegenteil „neue und perfidere Formen der Ausbeutung, Überwachung und Naturzerstörung liefert.“ Die Aussage der Digitalwirtschaft, dass Daten der neue Rohstoff seien, hält Welzer für grotesk. Denn zum einen ließen sich Daten weder essen noch trinken und zum anderen würde die digitale Industrie in Wahrheit selbst eine gewaltige Menge an Rohstoffen verschlingen. Und in der Tat hat Welzer Recht, wenn er schreibt, dass Daten keine Rohstoffe sind. Es ist ja im Gegenteil so, dass die Produktion und Speicherung von Daten große Mengen an (wirklichen) Rohstoffen verbrauchen. Der Energiebedarf von Rechenzentren in Deutschland, um nur ein Beispiel zu nennen, liegt bei zirka 10 bis 15 TWh. Das ist in etwa der Stromverbrauch Berlins. Die Produktion von CO2 in diesem Zusammenhang entspricht dabei in etwa den Emissionen des Luftverkehrs in Deutschland. Das Ganze mit steigernder Tendenz, versteht sich.
Welzers Denken fehlt die politische Dimension
Einer der radikalsten Vorschläge des Autors ist der Verzicht auf territoriale Grenzen. Er weist darauf hin, dass es auch in der Vergangenheit (bis zum Ersten Weltkrieg) kaum Grenzen gab, um Menschen auszuschließen, sondern lediglich, um Steuern einzutreiben, von denen, die sie passierten. Das heißt nicht, so Welzer, dass grenzfreie Gesellschaften nicht trotzdem Staatsbürgerschaften vergeben und „rechtliche Zugehörigkeit definieren“ könnten. „Aber was bitte hat all das mit Grenzregimen zu tun, in einer Welt, wo alles, von den Viren bis zu den Waren, von den Daten bis zu den Freundschaften, von den Pipelines bis zu den Finanztransaktionen grenzüberschreitend stattfindet?“ In Anbetracht der Tatsache, dass weltweit die Tendenz zunimmt, Grenzen zu ziehen und – schlimmer noch – Mauern zu bauen, mag dieser Vorschlag schon beinahe naiv anmuten. Gerade deshalb wäre es von besonderer Wichtigkeit, sich mit dieser Idee ernsthaft auseinanderzusetzen. Trotzdem wünscht man sich an dieser Stelle, Welzer hätte konkreter beschrieben, wie er sich eine solche grenzfreie Welt vorstellt und wie sie praktisch umgesetzt werden könnte.
Der größte Kritikpunkt betrifft allerdings die fehlende politische Dimension im Denken Welzers. Der Autor führt ja gerne und zu Recht die 1968er Bewegung als Beispiel für einen gelungenen gesellschaftlichen Wandel an. Doch die 68er haben die Gesellschaft nicht lediglich dadurch verändert, dass sie eine eigene Ästhetik begründeten und eine andere Lebenspraxis entwickelt und umgesetzt haben. Sie haben darüber hinaus den – zum Teil sehr massiven – Kampf gegen das politische Establishment geführt und so politische Strukturen und Einstellungen nachhaltig verändert. Diese politische Dimension kommt bei Harald Welzer leider zu kurz und das eint ihn mit anderen Protagonisten des Wandels, wie Stephan Lessenich oder Niko Paech, die in erster Linie das gesellschaftliche Individuum und sein moralisches Verhalten im Blick haben. Das ist natürlich richtig und wichtig, aber ohne den Kampf auch auf politischer Ebene werden sich keine tiefgreifenden Veränderungen durchsetzen lassen.
Was das Buch trotz dieser Einwände vor allem auszeichnet, ist die Tatsache, dass Harald Welzer in vielen Bereichen den gewohnten Denk- und Vorstellungsraum verlässt und den Mut hat, eine Zukunft jenseits des (auch grünen) Status Quo zu entwerfen. So ist für ihn das Elektroauto, womöglich noch autonom fahrend, keine Alternative für die Zukunft, sondern bereits Vergangenheit. Stattdessen plädiert er für eine „analoge“ und autofreie Stadt, die wieder ein Begegnungsraum für die Menschen sein könnte. So geht der Autor in vielen Punkten immer noch einen Schritt weiter, weil er keine Angst vor der Zukunft hat, sondern sie gestalten will, und noch nicht vom Virus des dystopischen und damit lähmenden Denkens befallen ist. Das ist positiv, zeigt Wege auf und macht Mut, die Dinge endlich in die Hand zu nehmen – im besten Fall auch auf politischer Ebene.
Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 320 Seiten, 22 Euro
Danke für die eingehende und kritische Besprechung.
Gibt es in Welzers Buch etwas zu Rosas Resonanz-Begriff oder zum Transformations-Begriff?
Viele Grüße
Lieber Herr Arnold,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Auf Hartmut Rosas Resonanztheorie geht Welzer in keinem seiner Bücher ein.
Viele Grüße
Eckart Löhr