Von seinen Verteidigern wird immer wieder gerne das Narrativ bemüht, der Kapitalismus – und das mit ihm verbundene permanente Wachstum – wäre der alleinige Garant für Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit und somit natürlich alternativlos. Und noch immer gilt der jeden Tag aktueller werdende Satz des amerikanischen Kulturwissenschaftlers Fredric Jameson: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.« Doch mehr und mehr Menschen wird zunehmend klar, dass an dieser Erzählung etwas falsch sein muss. Und merkwürdigerweise hat unsere Spezies Homo sapiens die letzten dreihunderttausend Jahre überlebt – und das ganz ohne Kapitalismus.
Der in Swasiland geborene und heute in London lebende Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel hat diese vermeintliche Erfolgsgeschichte des Kapitalismus eingehend analysiert und zeigt dieses Wirtschaftssystem als das, was es in Wahrheit ist: Ein System mit einer blutigen Geschichte von Sklaverei, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Dabei spielte, so Hickel, besonders die Praxis des »Enclosure« am Beginn des 16. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Im Zuge dieser »Einhegungen« wurden Bauern von ihren Ländern vertrieben und Gemeingüter privatisiert. So stellt Hickel klar, »dass der Aufstieg des Kapitalismus in Europa […] keineswegs aus dem Nichts kam. Dieser Aufstieg war abhängig von Waren, die mit Sklavenarbeit produziert wurden, in Gebieten, die man kolonialisierten Menschen gestohlen hatte, und verarbeitet in Fabriken, in denen europäische Bauern schufteten, die durch Enclosure gewaltsam vertrieben worden waren.«
Die Forderung nach radikaler Fülle
In der Praxis des Enclosure würde sich, so Hickel, bereits eine Eigenschaft des Kapitalismus zeigen, die gleichzeitig ein Motor dieses Systems ist: die künstliche Schaffung von Knappheit, um die Menschen vom kapitalistischen Produktionsprozess abhängig zu machen und zugleich das Konkurrenzdenken der Menschen zu verstärken. »Dass diese Logik auf Land und Ackerbau angewandt wurde, markierte eine grundlegende Transformation in der Geschichte der Menschheit. Es bedeutete, dass das Leben der Menschen erstmals durch die Imperative der Produktionssteigerung und Ertragsmaximierung bestimmt wurde.« Diese künstliche Verknappung von Gütern sei letztlich nur mit Gewalt durchzusetzen, die ohnehin ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Systems ist, und zieht sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus. Sie zeigte sich zuletzt in der sogenannten Austeritätspolitik, die ebenfalls Knappheit schafft, um weiteres Wachstum zu generieren, worunter insbesondere Griechenland zu leiden hatte.
Und man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, wie das weitergehen könnte. Heute sind es bereits die Wasserressourcen der Welt, die von einigen wenigen Großkonzernen kontrolliert werden. So wird auch dieses Gut verknappt, um mehr Geld in die Kassen der ohnehin schon Superreichen zu spülen (hier passt das Wort in zweierlei Hinsicht). Dass durch diese Praxis viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und durch verunreinigtes Wasser krank werden oder sterben: geschenkt! Das sind Kollateralschäden, über die man geschmeidig hinweggeht. Das alles passiert ja vorwiegend im globalen Süden und der ist weit weg. Welches Gut wird sich dieses System als nächstes unter den Nagel reißen? Vielleicht die Luft zum Atmen? Hier gibt es eben buchstäblich nichts, was nicht zur Ware werden könnte, die man anschließend nach Belieben verknappen kann.
Vor diesem Hintergrund stellt Hickel die auf den ersten Blick merkwürdig anmutende These auf, dass eine Beendigung des Wachstums nur zu realisieren wäre, indem die Politik des Mangels beendet würde. »Degrowth erfordert Fülle, um Wachstum überflüssig zu machen. Wenn wir die Klimakatastrophe abwenden wollen, muss die Umweltschutzbewegung des 21. Jahrhunderts eine neue Forderung aufstellen: die Forderung nach radikaler Fülle.« Diese Forderung schließt vor allem auch die Forderung nach Gerechtigkeit ein. Darunter versteht Hickel zum einen die Dekolonialisierung des globalen Südens und zum andern die Möglichkeit eines jeden, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Die ökologische Krise ist eine Wahrnehmungskrise
Hickel hat völlig richtig erkannt, dass die aktuelle Krise nicht zuletzt, und vielleicht sogar in erster Linie, eine Wahrnehmungskrise ist. In diesem Zusammenhang kritisiert er die Vertreter der modernen Naturkonzeption, die seit der Renaissance Natur als etwas außer uns definiert und zeitgleich mit dem Aufkommen des Kapitalismus die bis dahin vorherrschende animistische Vorstellung von Natur bekämpft haben. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der gesamte Kosmos als lebendiges und bewusstes Subjekt angesehen, in dem wir unseren Platz einnehmen müssen, so wie alle anderen Lebewesen auch. Und noch vielmehr galt das für die Natur dieses Planeten, die uns hervorgebracht hat. Eine Überwindung des Kapitalismus würde somit eine Überwindung unseres Weltbildes voraussetzen und, vice versa, würde die Überwindung des szientistischen Weltbildes das Ende des Kapitalismus bedeuten. So lautet Hickels Forderung, dass wir »die Art und Weise ändern müssen, wie wir die Welt sehen, und die Rolle, die wir darin einnehmen.«
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren und Autorinnen, die immer noch glauben, wir könnten durch die Entwicklung alternativer Energien die herrschende Krise überwinden, sieht Hickel ganz richtig, dass alternative Energien allein nicht ausreichen, sofern sich das Ganze in einem kapitalistischen und somit expansiven System abspielt. »Saubere Energie mag eine Hilfe sein, wenn es um Emissionen geht; aber sie trägt nichts dazu bei, Entwaldung, Überfischung, Bodenverarmung und Massensterben rückgängig zu machen. Eine wachstumsbesessene Wirtschaft wird uns, auch wenn sie von sauberer Energie angetrieben ist, trotzdem in die ökologische Katastrophe stürzen.«
Dieses System ist nun einmal darauf ausgelegt, immer weiter zu wachsen und somit immer mehr Rohstoffe zu verbrauchen. Die Umstellung auf alternative Energien ändert daran nichts. Zu glauben, wir könnten die ökologische Krise überwinden, indem wir unser Wirtschaftssystem auf alternative Energien umstellen und ansonsten so weitermachen wie bisher, ist genau die Lüge, mit denen »grüne« und andere PolitikerInnen die Menschen seit Jahren einlullen. Harald Welzer hat diese offensichtliche Unwahrheit in einem Interview einmal sehr treffend als »Anästhesienarrativ« bezeichnet. Ein Auswuchs dieses Irrsinns stellt dabei die Entwicklung der E-Mobilität dar, die selbst SUVs elektrifiziert, anstatt daran zu arbeiten, das Auto selbst möglichst überflüssig zu machen. Abgesehen davon kommt der Strom für diese Vehikel noch immer weitestgehend aus Kohlekraftwerken und jedes dieser tonnenschweren Fahrzeuge muss erst einmal unter Einsatz von Rohstoffen und Energie gebaut werden. Wer demnach ernsthaft glaubt, er würde mit dem Kauf eines solchen Gefährts etwas gegen den Klimawandel tun, muss sich wohl oder übel die Diagnose einer ausgewachsenen zerebralen Dysfunktion gefallen lassen. Therapie? – Fehlanzeige.
Die Technik wird uns nicht retten
Hickel bezweifelt aus gutem Grund auch die Vorstellung, wir könnten uns aus dieser Krise heraustechnologisieren, auch wenn er technische Innovationen befürwortet, um effizienter zu werden. Seine positive Einstellung gegenüber Effizienzsteigerungen durch technische Neuerungen in diesem Kontext verwundert insofern, da sich mittlerweile gezeigt hat, dass jegliche Effizienzgewinne in einem auf Wachstum ausgelegten System sofort kompensiert, wenn nicht sogar überkompensiert werden. Man bezeichnet das als Rebound-Effekt. Und jede technische Innovation wird in einem expansiven Wirtschaftssystem lediglich dazu genutzt werden, diesen Planeten noch gründlicher auszubeuten. Doch letztlich bleibt auch für den Autor der Glaube an eine technische Lösung eine Illusion und eine Wette auf die Zukunft, von der niemand sagen kann, ob wir sie gewinnen werden.
Von Einstein stammt der Satz, dass man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind. Und es ist ja gerade die reduktionistische und materialistische Denkweise der Techniker, die uns in die ökologische Katastrophe geführt hat und ohne die der Kapitalismus seine philosophische Basis verlöre. Von Wissenschaft und Technik jetzt die Lösung unserer ökologischen Probleme zu erwarten, ist ein säkulares, doch leider durch nichts gerechtfertigtes Überbleibsel des christlichen Heilsversprechens, dass am Ende alles gut wird. So werden die Wissenschaftler zu den Priestern der Moderne gemacht. Hickel hat diesen Irrtum auch im Falle des sogenannten Geoengineering erkannt, das den Versuch bezeichnet, mit technischen Mitteln in das komplexe Klimasystem der Erde einzugreifen: »Der fatale Fehler des Geoengineering liegt darin, dass es die ökologische Krise mit der gleichen Denkart – der gleichen Hybris – zu beheben versucht, die sie hervorgebracht hat.« Aber auch alle anderen Versuche, unsere ökologischen Probleme durch technische Innovationen zu lösen, sind aus diesem Grund von vornherein und grundsätzlich zum Scheitern verurteilt.
Demokratie und Kapitalismus sind in Wahrheit inkompatibel
Aus Hickels Sicht ist der Kapitalismus außerdem schlicht antidemokratisch und die sogenannten Eliten hätten, so der Autor, unser demokratisches System gekapert. Wie Recht er damit hat, zeigte sich zuletzt während der Corona-Pandemie, in der demokratische Standards ausgehebelt und rechtsstaatliche Strukturen massiv und nachhaltig beschädigt wurden. Es wurde zudem eine Politik zugunsten der Wirtschaft gemacht, während kleinere Betriebe, Freiberufler und nicht zuletzt die Kinder die Zeche zahlten und in Zukunft noch zahlen werden. Und auch der Krieg in der Ukraine und seine lange Vorgeschichte, in der die Ostsee-Pipeline Nordstream nur einen Teil darstellt, belegt seine These, dass Kapitalismus und Demokratie keine Freunde sind: »Man hat uns lange erzählt, Kapitalismus und Demokratie seien Teile eines Gesamtpakets. In Wirklichkeit sind die beiden möglicherweise inkompatibel. Die Besessenheit des Kapitals mit immerwährendem Wachstum auf Kosten der lebendigen Welt widerspricht den Werten der Nachhaltigkeit, an die die meisten von uns glauben. Wenn man den Menschen ein Mitspracherecht gibt, dann entscheiden sie sich am Ende dafür, die Wirtschaft nach den Prinzipien einer stationären Wirtschaft zu organisieren, die dem Wachstumsimperativ zuwiderlaufen. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus hat eine antidemokratische Tendenz, und die Demokratie hat eine antikapitalistische Tendenz.«
Im letzten Kapitel des Buches spricht sich Hickel für eine holistische Weltsicht und für eine Renaissance des Animismus aus, der in allen Lebensformen Individuen mit eigenem Wert sieht und auch Flüsse, Berge und Landschaften als Subjekte betrachtet. Er plädiert dafür, die Trennung zwischen Mensch und Natur aufzuheben, da eine solche nicht nur sinnlos, sondern »sogar moralisch verwerflich, fast ein Akt der Gewalt« wäre. Hat man aber erst einmal die Natur und ihre Lebewesen als gleichwertige und gleich wertvolle Partner akzeptiert, ergeben sich daraus zwangsläufig bestimmte Verhaltensweisen. Es wäre, so Hickel, »undenkbar, solche Lebewesen als ›natürliche Ressourcen‹ oder als ›Rohstoffe‹ oder gar als ›die Umwelt‹ anzusehen.«
Kapitalismus und ökologische Krise als zwei Seiten einer Medaille
Am Ende soll nicht verschwiegen werden, dass Hickels Buch auch einige Schwachpunkte aufweist. Wenn Hickel an einer Stelle schreibt, dass Wachstum nicht per se schlecht ist, solange es um die Bedürfnisse der Menschen geht, ist das insofern irritierend, da Wachstum immer mit einer Steigerung des Verbrauchs an Ressourcen und Energie einhergeht und somit auf Dauer nicht nachhaltig ist. Wir sollten versuchen, und Hickel tut das ja auch in weiten Teilen, eine Gesellschaft zu denken, die überhaupt nicht mehr auf Wachstum basiert. Auch schreibt Hickel, dass BECCS (bioenergy with carbon capture and storage) im Kampf gegen die Klimakatastrophe eine Rolle spielen muss und plädiert dafür, in Forschung und Erprobung zu investieren. Merkwürdigerweise nimmt er hier eine Position ein, die er gerade noch kritisiert hatte. Er glaubt offensichtlich doch daran, dass technische Innovationen nötig sind, um dem Klimawandel zu begegnen. Aber die Erfahrung lehrt eben, dass jede technische Innovation wiederum eine Fülle an Problemen mit sich bringt, die wiederum durch technische Innovationen beseitigt werden müssen. Im Fall von BECCS schließt das die Versauerung der Böden ein, und endet noch lange nicht bei der Verseuchung des Grundwassers durch Schwermetalle. In diesem Zusammenhang ist Hickel auch der Überzeugung, dass Atomkraft eine Komponente im zukünftigen Energiemix sein wird. Diese Überlegungen offenbaren, dass er das szientistische Paradigma noch nicht vollständig hinter sich gelassen hat. Die tiefenökologische Perspektive, die er im letzten Kapitel in Teilen einnimmt, scheint er selbst noch nicht zur Gänze verinnerlicht zu haben.
Davon abgesehen ist Weniger ist mehr nicht nur ein hervorragend recherchiertes, sondern auch ein hervorragend geschriebenes Buch mit einer Fülle notwendiger Einsichten, von deren Realisierung die Zukunft dieses Planeten abhängt. Was Hickels Buch darüber hinaus auszeichnet ist, gezeigt zu haben, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem und die ökologische Krise zwei Seiten einer Medaille sind. Man kann spätestens nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr über die Lösung ökologischer Probleme sprechen, ohne gleichzeitig die Systemfrage zu stellen.
Jason Hickel: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. Oekom Verlag 2022, ISBN-13: 9783962382841