Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben tierethische Fragen innerhalb der europäischen Geistesgeschichte kaum eine Rolle gespielt. Wenn sich Philosophen dann doch einmal mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben, ging das in der Regel zu Ungunsten der Tiere aus. So waren für den Philosophen und Theologen Thomas von Aquin (1225-1274) die Tiere schon aufgrund der vermeintlich göttlichen Ordnung den Menschen untergeordnet. Der französische Philosoph René Descartes (1596-1650) sah in den Tieren nichts anderes als komplizierte Maschinen ohne Seele und Verstand. Die Frage nach ihren Rechten hätte er vehement und wohl auch völlig verständnislos zurückgewiesen. Und selbst der große Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant (1724-1804), ist in seinem Denken nicht so weit gelangt, den Tieren einen von uns unabhängigen Wert zuzugestehen.
Tierethik und das Versagen der abendländischen Philosophie
Dass die Philosophie diese fundamentalen Fragen weitestgehend ignoriert und den Eigenwert der Tiere in der Regel negiert hat, ist eigentlich kaum zu begreifen und wohl nur mit unserer christlichen Tradition zu erklären. Gerade der Protestantismus und die mit ihm in der Renaissance aufkommenden Wissenschaften entheiligten die Natur und sprachen der mehr-als-menschlichen Welt (David Abram) darüber hinaus Werte, Ziele und Innerlichkeit ab. Und selbst heute scheinen noch immer viele davon überzeugt zu sein, dass Tiere in Wahrheit nichts anderes sind als seelenlose und ausschließlich instinktgesteuerte Wesen, die naturgemäß weniger wertvoll sind als wir. Anders lässt es sich kaum erklären, dass Millionen von ihnen jährlich auf dem Altar der Wissenschaften geopfert oder unter unwürdigsten Bedingungen als Schlachtvieh gehalten werden. Auch im Zuge der Corona-Impfstoff-Forschung sind viele Tiere (in der Regel Affen) vorsätzlich krank gemacht und getötet worden. Ein Tatbestand, der in diesem Zusammenhang leider so gut wie gar nicht thematisiert wird.
Die Auseinandersetzung mit tierethischen Fragen ist somit relativ neu. Der englische Schriftsteller und Sozialreformer Henry Stephens Salt (1851-1939) war wohl einer der ersten, der sich Ende des 19. Jahrhunderts mit diesen Fragen beschäftigt hat. Im Jahr 1892 erschien seine Abhandlung Animals’ Rights: Considered in Relation to Social Progress, die sich im Übrigen frei zugänglich im Internet findet und noch immer lesenswert ist. Mit dem 1975 erschienen Buch Animal Liberation (Die Befreiung der Tiere) des australischen Philosophen Peter Singer, wurde dieses wichtige Thema wieder in den Fokus der Diskussion gerückt. Auch wenn Singers präferenz-utilitaristischer Ansatz in einigen Punkten nicht überzeugen kann, war es doch seit langer Zeit wieder der erste ernstzunehmende Versuch, die Rechte der Tiere philosophisch zu begründen. Nur wenige Jahre später erschien das ungeheuer einflussreiche Buch Das Prinzip Verantwortung des deutsch-amerikanischen Philosophen Hans Jonas (1903-1993). Auch wenn sich Jonas in erster Linie mit umweltethischen Fragen auseinandersetzt, finden sich hier bereits zentrale Gedanken zur Tierethik, von denen Korsgaard unübersehbar beeinflusst ist. Seitdem hat sich eine sehr intensive und breit gefächerte Auseinandersetzung mit tier- und umweltethischen Fragen entwickelt, die bis heute anhält. So werden heute unterschiedliche ethische Konzepte vertreten, die von der pathozentrischen über die biozentrische bis zur holistischen Ethik reichen.
Korsgaards Kritik an Kant
Korsgaard vertritt in ihrem Buch Tiere wie wir offensichtlich einen pathozentrischen Ansatz, der allen empfindungsfähigen Wesen einen moralischen Status zuerkennt. Bereits im Vorwort schreibt Korsgaard: »[…] dass wir Menschen verpflichtet sind, alle fühlenden Tiere, das heißt alle, die angenehme oder schmerzhafte subjektive Empfindungen kennen, in zumindest einer Bedeutung des Begriffs als das zu behandeln, was Kant ›Zweck an sich selbst‹ nennt.« Korsgaard ist Professorin für Philosophie an der Harvard University und beschäftigt sich dort seit vielen Jahren mit Moralphilosophie, Tierethik und der Philosophie Kants. So ist ihr aktuelles Buch nicht zuletzt auch eine Auseinandersetzung mit seiner Philosophie vor dem Hintergrund tierethischer Fragen.
Für Kant können nur Menschen, als vernunftbegabte und mit einem zeitübergreifenden Bewusstsein ausgestattete Lebewesen, Mitglieder der Moralgemeinschaft sein. Ihren moralischen Status und ihren Wert erhalten sie aufgrund der Tatsache, dass sie autonome Wesen sind, mit der Fähigkeit, in Freiheit und Kraft ihrer Vernunft eigene Prinzipien der Erkenntnis und Sittlichkeit zu erstellen. Aufgrund ihres Bewusstseins hätten sie die Möglichkeit, sich Ziele zu setzen und diese zu verfolgen. Sie sind, so Kant, »Zwecke an sich«. Tiere dagegen hätten nur einen »relativen Wert« und seien letztlich nichts anderes als »Sachen«.
Dieser Auffassung widerspricht Korsgaard in zweierlei Hinsicht: Zum einen lehnt sie Kants Auffassung ab, man könne von einem individuellen Selbst nur sprechen, wenn das betreffende Lebewesen über eine zeitübergreifende Einheit des Bewusstseins verfügt. Aus ihrer Sicht gibt es unterschiedliche Grade von Bewusstsein, sodass sich mit dem Kantschen Bewusstseinsbegriff allein keine gültige Ethik begründen ließe. Zum anderen bestreitet sie die Behauptung Kants, nur autonome Wesen könnten Mitglieder der Moralgemeinschaft sein. Denn »Gesetze sind nach Kant ihrem Wesen nach allgemeingültig, und unter ihrem Schutz kann auch stehen, wer an ihrer Verabschiedung nicht mitgewirkt hat und nicht hätte mitwirken können.«
Tiere sind Wesen, die nach dem für sie Guten streben
Der zentrale Begriff in Koorsgards Argumentation ist aber der des »Guts«. Während Kant in seiner Philosophie immer das autonome Subjekt adressiert, ist es bei Korsgaard das Lebewesen, das nach dem für es Guten strebt. Hier findet sich eine Parallele zu Singer, der ebenfalls davon ausgeht, dass Tiere – so wie wir auch – Interessen haben und diese auch verfolgen. Jedes lebendige Wesen hätte demnach schon immer ein implizites Wissen davon, was gut oder schlecht für es ist. Gut heißt für Korsgaard immer »gut für« und sie versteht darunter Dinge und Bedingungen, die den Organismus befähigen, seine Funktion zu erfüllen. Das heißt, am Leben zu bleiben, gesund zu bleiben und sich fortzupflanzen. Es ist, so Korsgaard, »eine fast schon notwendige Wahrheit, dass für ein Tier, das so funktioniert, dass es nach seinem eigenen Wohlfunktionieren strebt, das eigene Leben ein Gut ist. Solange es gut funktioniert und in hinreichend guter Verfassung ist, um es zu bleiben, ist sein Dasein selbst ein Gut für es.«
Man kann somit davon ausgehen, dass auch Tiere ihrem eigenen Leben Wert beimessen, es vielmehr sogar als das höchste Gut ansehen. Wir wären deshalb dazu verpflichtet, den Tieren zumindest den Wert zuzugestehen, den sie sich selbst zusprechen. Denn ein Tier ist ein Wesen, »dem es auf sich selbst ankommt, ein Wesen, in dessen Natur es liegt, sich selbst zu schätzen. Es ist ein Wesen, das sich schätzt, indem es das, was funktional gut für es ist oder zu diesem funktional Guten beiträgt, zum Zweck seines Handelns macht. Wertschätzung ist eine Tätigkeit des Lebens, etwas, das konstitutiv zum Selbstverhältnis fühlender Wesen gehört. Ein Geschöpf als Zweck an sich selbst zu bezeichnen, heißt demnach, ihm den Wert zuzusprechen, den es sich selbst als Lebewesen notwendig zuspricht, und darum sein höchstes Gut als etwas Erstrebenswertes zu betrachten.«
Die Schwierigkeiten eines pathozentrischen Ansatzes
Koorsgaard scheint, wie eingangs schon erwähnt, die Fähigkeit der Tiere, nach dem für sie Guten zu streben, an der Schmerzfähigkeit des betreffenden Individuums festzumachen. Die Vertreter einer solchen pathozentrischen Ethik müssen sich dann allerdings die Frage gefallen lassen, wo sie die Grenze ziehen. Wo beginnt die Leidensfähigkeit von Tieren und wo endet sie? Bei den uns näher verwandten Säugetieren ist ihre Leidensfähigkeit ganz offensichtlich. Doch diese Einschätzung wird umso schwieriger, je weiter sich die Tiere stammesgeschichtlich von uns entfernen. Wir können schlicht und ergreifend nicht wissen, ob und wie beispielsweise eine Mücke leidet? So könnten wir Tiere, die wir als nicht schmerzfähig einschätzen, jederzeit aus der Moralgesellschaft ausschließen. Und genau das geschieht innerhalb der pathozentrischen Ethik. Allerdings zweifelt Koorsgaard wohl selbst an diesem ethischen Ansatz, wenn sie schreibt: »Könnte es am Ende sein, das wir Pflichten nicht allein unseren Mitgeschöpfen, sondern unseren Mitorganismen, ja unserem Mitseienden gegenüber haben?« Hier formuliert sie im Grunde genommen bereits den Kerngedanken einer holistischen Ethik, der von ihr aber nicht weiter ausgeführt wird.
Ein pathozentrischer Ansatz wäre nur dann gerechtfertigt, wenn man grundsätzlich allen Lebewesen die Fähigkeit zuspricht, Schmerz zu empfinden. Denn bereits auf der primordialen Ebene des Lebendigen gibt es ein Gefühl dafür, was gut oder schlecht für den jeweiligen Organismus ist. Und was könnte dieses Gefühl sonst sein, wenn nicht ein wie auch immer gearteter Eindruck von Lust oder Schmerz? Vielleicht sollte man den wenig hilfreichen pathozentrischen Ansatz innerhalb der philosophischen Ethik gänzlich fallenlassen und, wie es in der Biozentrik geschieht, dem Leben an sich einen intrinsischen Wert zuzusprechen, unabhängig von der vermeintlichen Schmerzfähigkeit des betreffenden Individuums.
Tiere so behandeln, wie es im Einklang mit ihrem Wohl steht
Die philosophischen Konsequenzen, die sich aus Korsgaards ethischer Konzeption ergeben, sind eindeutig: Massentierhaltung lehnt die überzeugte Veganerin ab, denn wir sollten »kein Geschöpf in die Welt setzen […], wenn wir im Voraus wissen, dass sein Leben nicht lebenswert sein wird.« Aber auch jede andere Art der Nutztierhaltung sieht Korsgaard äußerst kritisch. Denn letztlich würden diese Tiere gehalten, um uns als Nahrung zu dienen und am Ende werden wir sie töten und sie dadurch ihres höchsten Gutes berauben. Unabhängig davon sei Fleisch zu essen und tierische Produkte zu benutzen »nicht nur schlecht für die Haustiere, die misshandelt und gegessen werden. Es ist […] schlecht für das Klima, ein Desaster für die Artenvielfalt und schlecht für Wildtiere, deren Gemeinschaften von der Erde verdrängt werden, damit eine schon jetzt nicht mehr nachhaltige Zahl von Menschen große Mengen Fleisch essen kann.«
Die Nutzung von Tieren zu Forschungszwecken ist aus ihrer Sicht »nicht zu rechtfertigen, ja barbarisch.« Andere Fragen, wie die nach der Abschaffung der Prädation durch den Menschen, sind zwar philosophisch hoch interessant, werden aber aufgrund der praktischen Undurchführbarkeit in Zukunft kaum eine Rolle in der tierethischen Diskussion spielen. Korsgaard plädiert letztlich dafür, Tiere so zu behandeln, »wie es im Einklang mit ihrem Wohl steht.« Diese Forderung schließt naturgemäß alle Handlungen aus, die Tieren Schaden zufügen – in welcher Form auch immer.
Korsgaard hat mit Tiere wie wir ein wichtiges und lange überfälliges Buch geschrieben, dass vor allem in der Auseinandersetzung mit Kants Ethik überzeugend begründet, warum wir dazu verpflichtet sind, auch Tiere als Zwecke an sich selbst zu betrachten. Der nächste Schritt kann nur sein, dieses Konzept auf alles Lebendige auszuweiten. Der Philosoph Thomas Nagel schrieb in seiner Rezension zu diesem Buch, dass Korsgaards Position, sollte sie sich durchsetzen, »eine der größten moralischen Transformationen in der Geschichte der Menschheit zur Folge« hätte. Diese Einschätzung und die damit verbundene Hoffnung kann man ohne Weiteres teilen.
Christine M. Korsgaard: Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben. C.H. Beck Verlag 2021, ISBN-13:9783406765452