Neil Shubin ist in seinem Fachgebiet kein Unbekannter. Zusammen mit den beiden Paläontologen Ted Daeschler und Farish Jenkins machte er 2006 im Norden Kanadas einen aufsehenerregenden Fund: Einen Fisch mit Hals, Ellenbogen und Handgelenken. Dieses merkwürdige Wesen, dem das Forscherteam den Namen Tiktaalik roseae gab, gilt als Übergangsform zwischen Wasser- und Landbewohnern. Außerdem leitet Shubin das Institut für organische Biologie und Anatomie an der University of Chicago. Sein 2008 erschienenes Buch Your Inner Fish. A journey into the 3.5-billion-year history of the human body (Der Fisch in uns. Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers) wurde als Wissensbuch des Jahres ausgezeichnet.
Neuerungen, die während der Evolution des Lebens aufgetreten sind, haben Vorläufer, die weit in die Vergangenheit zurückreichen
Der Titel seines aktuellen Buches Die Geschichte des Lebens ist allerdings irreführend, denn Neil Shubin hat kein Buch über die Geschichte des Lebens geschrieben, sondern vielmehr ein Buch über die Geschichte der Wissenschaft des Lebens, der Biologie. Es beginnt mit der Auseinandersetzung zwischen Charles Darwin und St. George Jackson Mivart, der anzweifelte, dass die natürliche Selektion die Anfangsstadien nützlicher Strukturen erklären kann, erzählt von der Entdeckung der Hox-Gene und endet bei der Entwicklung der Genschere CRISPR. Der äußerst selbstbewusste Untertitel Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt (decoding four billion years of life) spiegelt einmal mehr die Hybris der Biologie, die so tut, als wären die großen Fragen der Evolution bereits geklärt. Doch das ist natürlich ganz und gar nicht der Fall. Man weiß so gut wie nichts über den Ursprung des Lebens noch über den des Menschen und auch die Entstehung der Formen, die sogenannte Morphogenese, liegt völlig im Dunkeln. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Ein wenig mehr Bescheidenheit würde diesem Fach somit ganz guttun. Aber das nur am Rande.
Shubins zentrale These lautet, dass sämtliche Neuerungen, die während der Evolution des Lebens aufgetreten sind, Vorläufer haben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. »Nichts beginnt zu der Zeit, zu der man es glaubt«, so Shubin. So würde die Natur mit einem genialen Trick arbeiten: Sie entwickelt nicht jedes Mal neue Organe, um sich einer veränderten Umwelt anzupassen, sondern verwendet bereits vorhandene Merkmale, die sie den neuen Erfordernissen gemäß umgestaltet. So seien beispielsweise Federn nicht entwickelt worden, um die Flugfähigkeit von Vögeln zu verbessern. Es gab sie schon lange vorher. So wie es schon immer eine Fähigkeit vieler Fische war, Luft atmen zu können. Das alles ist keine grundlegend neue Erkenntnis und bereits Charles Darwin wusste um diese Fähigkeit der Natur. Shubins eigene Entdeckung von Tiktaalik roseae hat diese These noch einmal bestätigt.
Kaum eine andere Wissenschaft ist dem Leben so entfremdet wie die Biologie
Was der Autor mit seinem Buch sicher nicht erreichen wollte ist, nebenbei gezeigt zu haben, dass die Geschichte der Biologie auch eine Geschichte der mangelnden Achtung dem Leben gegenüber ist. Da werden beispielsweise die Gene von Mäusen derart verändert, dass sich statt der Wirbel Rippen ausbilden oder sie mit verstümmelten Gliedmaßen zur Welt kommen. Natürlich alles im Namen der Wissenschaft und des Fortschritts. Zu erklären sind solche Experimente nur durch einen erschreckenden Mangel an Empathie und die völlige Unkenntnis dessen, was Leben ausmacht. Es lässt sich eben nicht in chemische oder mathematische Formeln pressen und entzieht sich jedem Zugriff der instrumentellen Vernunft. Darüber hinaus wird Tieren noch immer kein eigener, von uns unabhängiger Wert zugestanden. Gefangen in einer zutiefst materialistischen und reduktionistischen Weltsicht sind Tiere in den Augen vieler Biologinnen und Biologen nichts anderes als komplexe Maschinen, die man nach Belieben manipulieren kann:
»Ende der 1990er Jahre baute ein Genetikerteam in London kurze DNA-Abschnitte in die Genome von Mäusen ein, um damit die Entstehung des Gehirns zu studieren. Die Fragmente sind Teile einer kleinen, von den Wissenschaftlern hergestellten Molekülmaschine, die sich an die DNA anheftet und als Aktivitätssignal dient. Hin und wieder geht bei solchen Experimenten etwas schief. Landet das Fragment in einem biologisch wichtigen Teil des Genoms, kann es eine Mutation hervorrufen. Genau das geschah in den Experimenten der Londoner Arbeitsgruppe: Bei einigen behandelten Mäusen entwickelte sich ein normales Gehirn, aber Finger und Zehen waren missgebildet. Eine Maus hatte sogar zusätzliche Finger und sehr breite Pfoten […]. Das Team konnte eine ganze Abstammungslinie solcher Mutanten erzeugen und wie es der wissenschaftlichen Konvention entspricht, gab man ihnen einen Namen. Man nannte sie Sasquatch nach dem Großfußgeschöpf aus der paranormalen Welt.«
Es ist durchaus gerechtfertigt, sich an dieser Stelle die Frage zu stellen, was das für Menschen sind, die Tiere vorsätzlich missgestalten und zu Monstern machen, um ihnen dann auch noch vermeintlich witzige Namen zu geben? Was ist das für eine Wissenschaft, die sich die Lehre vom Leben nennt und diesem wie keine andere Disziplin fundamental entfremdet ist? Was für ein Bild von sich selbst muss man haben, was für ein Bild vom Leben im Allgemeinen und Tieren im Speziellen, um im Namen des sogenannten Fortschritts Tiere zu quälen, zu missbrauchen und zu bloßen Objekten zu degradieren?
So hat dieses Buch, wenn man über die entsprechenden Abschnitte nicht abgebrüht hinwegliest, auch die wichtige Funktion, die Geschichte der Biologie nicht nur in ihrer ganzen Faszination, sondern auch in ihrer ganzen Hässlichkeit gezeigt zu haben. Und es bleibt neben den vielen Erkenntnissen der Biologie vor allem auch diese: Die gesamte Forschung, die die Würde des Lebens missachtet und Lebewesen lediglich als Mittel zum Erkenntnisgewinn betrachtet, sollte verboten und darüber hinaus gesellschaftlich geächtet werden. So gesehen hat Neil Shubin mit Die Geschichte des Lebens ein in jeder Hinsicht lehrreiches Buch geschrieben.
Neil Shubin: Die Geschichte des Lebens. Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt. S. Fischer Verlag 2021. ISBN-13: 978-3-10-397240-5
der artikel hat mir aus der seele gesprochen. genau diese gedanken des angewidert- und befremdetseins hatte ich beim betrachten der doku von neil shubin, behielt sie aber still für mich. aufmerksam geworden bin ich auf die forschungen, weil ich dachte, hier hätte ein mensch kraft seiner aus wissensdurst geborenen phantasie phänomenale entdeckungen gemacht. ernüchtert musste ich dann realisieren, dass forscher hier untersuchungsmethoden anwenden, die keinerlei respekt und mitgefühl anderen lebewesen gegenüber verraten. dahinter steckt eine ähnliche mentalität und das gleiche verhalten wie dr. mengele und konsorten dies früher und heute ihren eigenen artgenossen gegenüber an den tag gelegt haben und noch legen. man könnte auch sagen, das missing link zwischen tier und mensch sucht nach anderen missing links in der evolutionskette. und man fragt sich, ob die vermeintlich bereits erreichte entwicklungsstufe der „menschheit“ angesichts dieser selbstverliebt in die kamera lächelnden wissenschaftler jemals erreicht werden kann und wird.