Liest man die Kurzrezensionen zu diesem Buch, die der Verlag in ungewöhnlich hoher Zahl auf den ersten Seiten abgedruckt hat, könnte man meinen, eine der besten Neuerscheinungen der letzten Jahre aus dem Bereich Biologie in den Händen zu halten. Leider ist das aber ganz und gar nicht der Fall. Denn zum einen ist Was ist Leben? des britischen Biochemikers und Neurobiologen Paul Nurse ein bemerkenswert unreflektiertes Buch und zum andern zeugt es von einer Hybris, die zwar innerhalb der Biologie nicht ungewöhnlich, aber doch immer wieder erstaunlich ist.
Leben als Folge von Zufall und Notwendigkeit
Der Autor versucht, sich dem Phänomen des Lebens zu nähern, indem er fünf eng damit verbundene Bereiche untersucht: Die Zelle, das Gen, die Evolution, die Chemie und die Information. Rein fachlich gibt es hier erst einmal nichts zu bemängeln, außer dass der Autor über Darwin und sein Konzept der natürlichen Selektion und dem »Überleben der Fittesten« nicht hinauskommt. So gibt es doch inzwischen eine Vielzahl von BiologInnen, die verstanden haben, dass Darwin allein nicht ausreicht, um die Entstehung des Lebens und die daraus folgende ungeheure Vielfalt der Natur zu verstehen. Nicht Kampf spielt hier die entscheidende Rolle, sondern ganz im Gegenteil ist Kooperation das zentrale Movens der Entwicklung. Für Nurse ist Evolution aber lediglich die Folge von Mutation und Selektion, von Zufall und Notwendigkeit. Schon hier ließe sich einwenden, dass Zufall keine wissenschaftliche Kategorie darstellt und Notwendigkeit eine bloße Tautologie und keine Erklärung für irgendetwas ist. So ist das, was hier in fünf Kapiteln rekapituliert wird, nicht mehr als schlichtes Schulbuchwissen und man sucht als Leser vergeblich nach einem originellen Gedanken. Von einem Wissenschaftler, der im Jahr 2001 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet wurde, hätte man deutlich mehr erwartet.
Nurse behauptet weiter, dass die natürliche Selektion ein »vollkommen ungerichteter und gradueller Prozess« sei. Doch wäre natürliche Selektion von Beginn an ungerichtet, wäre nie etwas entstanden. Und von Beginn an ist hier durchaus wörtlich zu nehmen, da es wissenschaftlich unstatthaft wäre, die natürliche Selektion an irgendeiner beliebigen Stelle beginnen zu lassen, frei nach Terence McKennas Motto »give us one free miracle and we´ll explain the rest.« Wenn allein die natürliche Selektion das alles hervorgebracht hat, dann muss sie bereits auf atomarer bzw. subatomarer Ebene begonnen haben. Diese logische Konsequenz gerät allerdings in Konflikt mit dem materialistischen Weltbild des Autors.
Nach Nurse vollzieht sich die Evolution ausschließlich graduell
Denn wenn man unreflektiert von einem primitiven Materialismus ausgeht, der seit 1927, dem Jahr der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, eigentlich überwunden sein sollte, gibt es nichts, an dem die natürliche Selektion ansetzen könnte. Darauf hat bereits der britische Philosoph Alfred North Whitehead eindrücklich hingewiesen. Denn »der ursprüngliche Stoff oder das Material, von dem eine materialistische Philosophie ausgeht, ist der Evolution unfähig. Dieses Material ist an sich die elementare Substanz. Evolution wird nach der materialistischen Theorie auf ein anderes Wort für die Beschreibung von Veränderungen in den äußeren Relationen zwischen Materieteilen reduziert. Hier gibt es nichts, was der Evolution fähig wäre, weil eine Menge von äußeren Relationen so gut wie jede andere ist. Möglich ist allein eine nicht zweckgerichtete und nicht fortschreitende Veränderung. Aber die ganze moderne Lehre läuft darauf hinaus, daß eine Evolution der komplexen Organismen aus früheren Zuständen weniger komplexen Organismen stattfindet. Die Lehre schreit daher geradezu nach einer Konzeption des Organismus, wie er für die Natur grundlegend ist.« Das heißt, Materie muss bereits auf primordialer Ebene ein wie auch immer geartetes teleologisches Moment enthalten. Evolution ohne Zielgerichtetheit ist daher, gerade zu Beginn der Evolution, nicht denkbar.
Auch seine Behauptung, Evolution würde sich ausschließlich graduell vollziehen, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Spätestens der Übergang vom Tier zum Menschen, der bisher völlig ungeklärt ist, scheint ein eher sprunghafter gewesen zu sein und ist graduell nicht zu erklären oder anhand fossiler Funde zu bestätigen. Auch die Entstehung des Lebens ließe sich aus materialistischer Sicht nicht graduell erklären, sondern könnte nur als emergente, also sprunghaft auftretende, Eigenschaft komplexer Systeme verstanden werden. Andernfalls müsste man der Materie protovitale Eigenschaften zusprechen. Das gleiche gilt im Übrigen für die graduelle Entstehung des Bewusstseins, die innerhalb eines materialistischen Rahmens die Protomentalität von Materie zwingend voraussetzt. Der britische Philosoph Galen Strawson hat hierzu ein wegweisendes Essay veröffentlicht. Und auch der amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat in seinem Buch Geist und Kosmos das Problem richtig erkannt und schreibt: »Was mich leitet, ist die Überzeugung, dass der Geist nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur.«
Das heißt, wer an eine ausschließlich graduelle Entwicklung der Evolution glaubt, muss seinen streng materialistischen Standpunkt zugunsten eines panvitalistischen bzw. panpsychistischen Ansatzes aufgeben. Ansonsten bliebe ihm nur noch der Ausweg der Emergenz, wobei dieser Begriff keine Erklärung, sondern lediglich eine Beschreibung dessen ist, was wir nicht verstehen. Er ist in Wahrheit eine Leerformel ohne weiteren Erkenntnisgewinn für Vorgänge, die sich wissenschaftlich nicht erklären lassen, eine »spezial-kreationistische Theorie ohne Gott« um es mit den Worten Robert Spaemanns zu sagen.
Nurse erhebt die wissenschaftliche Methode zur Weltanschauung
All diese Widersprüche sind nicht neu und Biologiebücher dieses Formats gibt es reichlich. Wirklich ärgerlich wird es erst, wenn der Autor einen Fehler begeht, der in den Wissenschaften zwar weit verbreitet, aber dennoch unverzeihlich ist: Er erhebt die wissenschaftliche Methode, die sich durch einen materialistischen und reduktionistischen Ansatz auszeichnet, zur Weltanschauung. Und diese versucht er, den LeserInnen quasi en passant unterzuschieben. Das aber ist nicht nur unredlich, sondern vor allem unwissenschaftlich. Und wenn die Methode zur Weltanschauung avanciert, wird aus Biologie schnell Biologismus und dann ist Vorsicht geboten.
Besonders deutlich wird das, wenn Nurse schreibt, dass »Zellen, und daher lebende Organismen, […] zwar ziemlich komplizierte, aber letztlich verständliche chemische und physikalische Maschinen [seien]. Gleichzeitig stellt er fest, dass diese Sicht auf das Leben die gegenwärtig vorherrschende Auffassung innerhalb der Biologie sei. Und tatsächlich halten viele Biologen, aber auch Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen, noch immer an dem aus der Renaissance stammenden Maschinenkonzept des Lebens fest. Wenn Nurse, aus seiner Perspektive nur konsequent, schreibt, dass wir eines Tages verstehen werden, »wie Leben funktioniert, wenn wir verstehen, wie Zellen funktionieren«, offenbart an dieser Stelle bereits die Sprache, dass er auf dem Holzweg ist. Denn Zellen »funktionieren« nicht, so wenig wie das Leben als Ganzes »funktioniert«. Das Leben ist eben keine Maschine mit Rädchen, Getriebe und Hauptprozessor, sondern ein übersummatives Phänomen, das die bloß physikalischen und chemischen Prozesse in einer Weise transzendiert, die sich dem Zugriff der instrumentellen Vernunft zur Gänze entzieht.
Das Problem ist hier folgendes: Seit René Descartes im Rückgriff auf die aristotelische »Analytica Posteriora« das Verfahren der Analyse in die Philosophie eingeführt hat, wurde es zur zentralen Methode der modernen Wissenschaften, ihren Untersuchungsgegenstand in immer kleinere Teile zu zerlegen, um ihn untersuchen zu können. Das ist heuristisch fruchtbare Methode, die zu einer Vielzahl von Entdeckungen geführt hat und in Zukunft führen wird. Sie leidet aber gerade im Bereich des Lebendigen, wie übrigens auch auf dem Feld des Geistigen, unter einem entscheidenden Mangel: Um Lebendiges dergestalt untersuchen zu können, bleibt dem Wissenschaftler nichts anderes übrig, als das Objekt seiner Untersuchung zu töten. Zwar lassen sich die so entstandenen Teile jetzt bis auf die molekulare Struktur hinab wissenschaftlich analysieren, doch setzt man diese wieder zusammen, erhält man lediglich eine komplexe Maschine, aber eben gerade nicht das, wonach man gesucht hat. Der Versuch, diese aus Teilen rekonstruierte Maschine für das Leben selbst auszugeben, stellt eine durch nichts gerechtfertigte Erweiterung und Überschreitung wissenschaftlicher Grenzen dar. Das Lebendige versteckt sich nun mal da, wohin der lange Arm der Wissenschaften nicht gelangen kann. Denn es ist, so haben es Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung richtig erkannt, zwar kein Sein »in der Welt, das Wissenschaft nicht durchdringen könnte, aber was von Wissenschaft durchdrungen werden kann, ist nicht das Sein.« Und dieses Sein ist gleichbedeutend mit dem Lebendigen, es ist die Voraussetzung für Innerlichkeit, Geistigkeit und Zielgerichtetheit und nicht zuletzt die Quelle für den Wert des betreffenden Lebewesens.
Mangelnde Achtung vor dem Leben
Die Ausweitung der Biologie zur Weltanschauung wird bei Nurse bereits in der Einleitung deutlich, wenn er schreibt, dass, »die Biologie in den kommenden Jahren in zunehmendem Maße die Grundlagen für die Entscheidungen liefern [wird], mit denen wir festlegen, wie Menschen leben, geboren, ernährt, geheilt und vor Pandemien geschützt werden.« Wir können nur hoffen, dass diese düstere Prognose niemals Wirklichkeit werden wird. Denn, so hat es der Sozialwissenschaftler Harald Welzer formuliert: »Die Verwissenschaftlichung des Diskurses bedeutet eine politische Entleerung des öffentlichen Raumes, eine Überformung durch Pseudorationalität. […] Man darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Einrichtung der Welt nach wissenschaftlichen Kriterien automatisch zum Totalitarismus tendiert, weil es ja ›Gesetze‹ sind, nach denen Gesellschaft ausgerichtet wird, biologische bzw. rassistische im Fall des Nationalsozialismus, historische im Fall des Kommunismus. Beides tödlich.« Die Biologisierung der Politik während der Corona-Pandemie zeigt bereits in aller Drastik, welche Probleme damit verbunden sind und wohin eine »Verwissenschaftlichung des Diskurses« führt. Denn Wissenschaft kennt nun mal keine Grautöne und 2×2 ist immer und ohne Ausnahme 4! Im wissenschaftlichen Kontext ist das dringend erforderlich, im Rahmen des Politischen kann das schnell zerstörerisch werden.
Wer Lebewesen als komplexe Maschinen betrachtet, hat in der Regel auch wenig Achtung vor ihnen. Und so schreibt Nurse nur folgerichtig, dass es möglich sein müsste, »mithilfe der synthetischen Biologie Nahrungspflanzen und Nutztiere mit höherem Nährwert zu entwickeln.« Tiere sind aus der anthropozentrischen Perspektive des Autors somit nicht mehr, als Träger von Nährwert für uns und werden damit zu passiven und beliebig manipulierbaren Objekten degradiert. Mit einer derartigen Sicht auf das Leben stellt es auch kein größeres Problem dar, sie massenhaft in Versuchslaboren zu quälen und zu töten.
So bleibt die Biologie eine tragische Wissenschaft, denn als Lehre vom Leben hat sie noch immer nicht den Hauch einer Vorstellung dessen, was »Leben« eigentlich ist. Anstatt sich dieses grundsätzliche Unwissen einzugestehen, wird immer noch so getan, als ließe sich Leben aus toter bzw. unbelebter Materie Stück für Stück aus wissenschaftlich analysierbaren Teilbereichen rekonstruieren. Wohin eine solch defiziente Auffassung des Lebendigen führt, lässt sich jeden Tag in unserem Umgang mit der Natur beobachten. Paul Nurse hat eine weitere Chance vertan, diese biologistische, und in ihrer Umsetzung zerstörerische, Sicht zu revidieren und zeigt damit einmal mehr, welche Fehler man als Naturwissenschaftler bei dem Versuch, Lebendiges zu begreifen, nicht begehen sollte.
Paul Nurse: Was ist Leben? Die fünf Antworten der Biologie. Aus dem Englischen von Heiner Kober. Aufbau Verlag 2021. ISBN-13: 978-3-351-03888-5