Der Massenmord an den Juden durch die Nationalsozialisten und die damit verbundene unbeantwortbare Frage, wie Gott das zulassen konnte, ließ viele an ihrem Glauben und insbesondere an der Allmacht Gottes zweifeln. Innerhalb der christlichen Theologie gab es Versuche, eine neue Vorstellung von Gott zu entwickeln: eine Theologie nach Auschwitz. Jürgen Moltmann (1926-2024) entwarf eine Theologie der Hoffnung und der katholische Theologe Johann Baptist Metz (1928-2019) wurde zum Begründer der Neuen Politischen Theologie. Vor allem war es die protestantische Theologin Dorothee Sölle (1929-2003), die eine neue Theologie nach dem »Tode Gottes« entwarf und »atheistisch an Gott glauben« wollte. Auf jüdischer Seite steht, neben anderen, der Rabbiner Richard Rubenstein (1924-2021), der – u.a. in seiner Schrift After Auschwitz – das traditionelle Gottesbild radikal verwarf.
Auschwitz lässt keinen Raum mehr für Sinndeutungen jeglicher Art
Auch der deutsche Philosoph Hans Jonas (1903-1993) nahm Abschied von der Vorstellung eines allmächtigen Gottes. Hans Jonas überlebte zwar den Völkermord der Nazis, da er 1933 Deutschland verließ und nach London und später Jerusalem emigrierte; seine Mutter aber wurde in Auschwitz ermordet. Er selbst starb 1993 in New York. Vor allem in seiner Schrift Der Gottesbegriff nach Auschwitz versuchte er, ein neues Bild von Gott zu entwickeln. Die Vorstellung eines omnipotenten Gottes, die, so Dorothee Sölle, ohnehin dem männlichen Machtdenken entsprungen war, hatte endgültig abgedankt. Ein allmächtiger Gott, der die Ermordung von sechs Millionen Menschen zuließ, obwohl er nach dieser Vorstellung ja die Möglichkeit zum Eingreifen gehabt hätte, konnte entweder nicht gut oder nicht allmächtig sein. Dieses sogenannte Theodizee-Problem war nicht neu und immer wieder in der Geschichte stellte sich die Frage nach der Ursache und dem Sinn des Bösen sowie des Leidens in der Welt. Eine Zäsur war hier das Erdbeben von Lissabon, das im Jahr 1755 die Hauptstadt des katholischen Portugals zerstörte und mehrere zehntausend Tote forderte. Der große Aufklärer Voltaire schrieb daraufhin seinen Roman Candide und setzte sich kritisch, um nicht zu sagen zynisch, mit Leibniz` »bester aller möglichen Welten« auseinander. Doch nie zuvor stellte sich die Frage der Theodizee in dieser kompromisslosen Schärfe, wie es nach Auschwitz der Fall war, wo der alte Gott in den Krematorien verbrannte.
Jonas zeigt, dass es in früheren Zeiten noch die Möglichkeit gegeben hätte, das, was den Juden widerfuhr, mit ihrer Untreue gegenüber Gott zu rechtfertigen. So waren die Opfer der Judenverfolgungen durch die Jahrhunderte vor allem Märtyrer, die im Glauben an die Einheit ihres Gottes starben. »Durch ihr Opfer leuchtete das Licht der Verheißung, der endlichen Erlösung durch den kommenden Messias.« Auschwitz, so Jonas, machte damit radikal Schluss. Es entmenschlichte die dort Gefolterten und ließ somit keinen Raum mehr für irgendwelche Erklärungsversuche. Denn »nichts von alledem verfängt mehr bei dem Geschehen, das den Namen ›Auschwitz‹ trägt. Nicht Treue oder Untreue, Glaube oder Unglaube, nicht Schuld und Strafe, nicht Prüfung, Zeugnis und Erlösungshoffnung, nicht einmal Stärke oder Schwäche, Heldentum oder Feigheit, Trotz oder Ergebung hatten da einen Platz.« Gerade für die Juden, so Jonas, war Auschwitz gleichbedeutend mit der Infragestellung des ganzen überlieferten Gottesbegriffes. »Denn für den Juden, der im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent der Herr der Geschichte.«
Bei Hans Jonas hört Gott auf, Gott zu sein und begibt sich in seine Schöpfung
Wie ließe sich nach diesen grausamen Erfahrungen ein Bild Gottes retten, das man noch guten Gewissens betrachten konnte? Folgt man Hans Jonas, so ist das nur möglich, indem man Gott völlig neu denkt; jenseits von Allmacht und der Fähigkeit, in irdisches Geschehen einzugreifen. So hört in seinem Mythos Gott schlicht auf, Gott zu sein: »Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich.« Die Gottheit begibt sich demnach in ihre Schöpfung, ohne zu wissen, wie sie daraus wieder hervorgehen würde. Denn »kein unergriffener und immuner Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren. (…) Vielmehr, damit Welt sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie.« Und damit geht Gott ein grenzenloses Wagnis ein: das Wagnis zu scheitern. Es kommt somit auf uns und unser Handeln an. Denn das würde darüber bestimmen, wie Gott letzten Endes aus seiner Schöpfung hervorgehen wird. Nicht wir sind also auf Gott angewiesen, sondern umgekehrt, Gott auf uns.
Entscheidend bei dieser Vorstellung der Kenosis Gottes ist, dass nicht nur wir auf Gott einwirken, sondern umgekehrt wir ebenso durch Gott affiziert werden. Da erst durch uns und unser Handeln Gott wird, heißt das allerdings nichts anderes, als dass wir durch unser eigenes Tun beeinflusst werden, das über den Umweg Gottes wieder zu uns zurückkehrt. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung gelingt es ihm auch, dem Leiden einen Sinn abzuringen. Für Jonas ist Gott durch den »unermeßlichen Chor« der Schreie der Gequälten und Ermordeten selbst verwundet und verstört. Und dieses Leiden hängt nun »wie eine Wolke des Kummers und der Anklage über unserer Welt« und verpflichtet uns, im Namen der Toten, eine bessere Zukunft zu bauen. Der große katholische Theologe Karl Rahner würde an dieser Stelle bereits Einspruch erheben und sagen: »Um […] aus meinem Dreck und Schlamassel und meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott […] genauso dreckig geht.«
Das Bild eines entäußerten Gottes kann nicht überzeugen
So verständlich es ist, nach den schrecklichen Erfahrungen der Konzentrationslager ein neues Bild Gottes zu malen, so wenig lässt sich doch mit diesem Gott anfangen. Denn was könnte den Menschen ein Gott bedeuten, der erst durch sie entsteht und lediglich der Spiegel ihrer Handlungen ist? Es wäre der anthropomorphe Gott Feuerbachs, letztlich nur eine Reflexion unserer selbst. Dieser Gott könnte weder trösten noch erlösen. Er wäre kein Gesprächspartner und könnte darüber hinaus auch nicht für uns und unsere Existenz bürgen. Es gäbe keinen letzten Sinn, keine absolute Liebe, Gerechtigkeit, Vergebung oder Wahrheit, sondern nur so viel, wie wir im Leben Sinn finden, lieben, wahr oder gerecht handeln und vergeben würden.
Noch dazu könnte dieser Gott nicht verhindern, dass seine Schöpfung eines Tages in das absolute Chaos abgleitet und diese Welt buchstäblich zur Hölle würde. Dass sie es schon in Teilen ist, lässt sich kaum leugnen. Aber immer bleibt da die unausrottbare Hoffnung, als das stärkste Indiz für die Existenz Gottes, die uns daran glauben lässt, dass eine andere Welt möglich ist. »Die Hoffnung«, schreibt Josef Pieper, »ist, wie die Liebe, eine der ganz einfachen Ur-Gebärden des Lebendigen. In der Hoffnung reckt der Mensch sich ›unruhigen Herzens‹ in vertrauend auslangender Erwartung empor nach dem bonum arduum futurum, nach dem steilen ›Noch nicht‹ der Erfüllung, der natürlichen wie der übernatürlichen.«
Aber auch diese Hoffnung auf das bonum arduum futurum, das schwer zu erreichende Gut, wäre unter diesen Umständen möglicherweise eines Tages verloren. Die Möglichkeit, dass der Mensch und mit ihm die gesamte Schöpfung lieb- und hoffnungslos und damit dämonisch werden könnte, wäre somit das Wagnis, das Gott eingegangen ist, indem er sich seines Gottseins entäußert und in die Welt begeben hat. Eine solche Welt wäre schlicht eine nihilistische oder besser noch eine sündige Welt im tiefsten Sinn des Wortes. Das heißt eine Welt absoluter Gottferne, mit dem Unterschied, dass nicht wir uns von Gott, sondern Gott sich von uns entfernt hätte. Für den französischen Autor und Existenzphilosophen Albert Camus ist eine solche Welt der Sünde ohne Gott eine absurde Welt.
Doch warum existiert Gottes Schöpfung noch immer und ist nicht schon längst ins Chaos abgeglitten? Das Leben auf der Erde entstand vor zirka vier Milliarden Jahren, das Alter des Universums wird auf zirka vierzehn Milliarden Jahre geschätzt. Die Schöpfung hatte demnach Zeit genug, sich in Chaos zu verwandeln. Sie hat es nicht getan. Im Gegenteil haben sich im Laufe der Evolution hochkomplexe Strukturen, organisches Leben und nicht zuletzt die menschliche Vernunft und seine eng damit verbundene Moral und Ethik entwickelt. Das alles spricht doch eher dafür, dass Gott sich zumindest einen Rest von Wirksamkeit bewahrt hat. Mehr noch könnte man in diesem Zusammenhang beinahe schon von einem »evolutionären Gottesbeweis« sprechen. Zwar ist es eine unleugbare Tatsache, dass Menschen sich immer wieder tausend- und millionenfach gegen Gott entschieden haben und entscheiden. Aber es ist eine ebenso unleugbare Tatsache, dass sie es bis heute nicht in Gänze, absolut und unwiderruflich getan haben. Und gerade weil diese Schöpfung in Gott ist und Gott in ihr, ist es auch in Zukunft ausgeschlossen, dass sie sich so weit und so radikal von ihm entfernen könnte, dass sie ins Dämonische fällt.
Wäre Gott nur der Spiegel der Menschen, wie könnten wir überhaupt einen Begriff des Guten haben? Dieses Gottesverständnis vorausgesetzt, bliebe nur der Glaube an die naturalistischen Erklärungsversuche der Wissenschaften. Aber diese müssen vor der Frage nach der Herkunft des moralischen Gesetzes in uns kapitulieren. So wie sie weder für die Entstehung des Lebens noch für die Genese des Geistigen eine Erklärung haben; vom Auftauchen des menschlichen Selbstbewusstseins ganz zu schweigen. Ohnehin könnten wir von dieser Seite aus im besten Fall Antworten auf das Wie erwarten, niemals aber auf das Warum.
Die Frage nach der Schuld Gottes verschleiert im Übrigen auch die Frage nach den wahrhaft Schuldigen. Denn wer ist hier schuldig geworden? Schon eher all die Menschen, die durch bloßes Nichtstun, Wegsehen und Nicht-wissen-wollen diese Verbrechen erst ermöglicht haben. Von den konkreten Tätern, die sich aktiv an den Morden und Folterungen beteiligt haben, ganz zu schweigen. So hätten die Toten keine andere Aufgabe, als eine Warnung für uns zu sein, es besser zu machen. Wo bliebe die Hoffnung auf Trost für die Gequälten, wo die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Vergebung? Und die Sehnsucht, »dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge« (Horkheimer) bliebe für immer ungestillt. Dann doch lieber keinen Gott, als einen ohnmächtigen, der dem Leiden der Menschen zwar durchaus betroffen zusieht, aber ansonsten nichts anzubieten hat, als lediglich das Gefäß für unser geschichtliches Handeln zu sein, in der unbegründeten Hoffnung, dass wir uns letztlich für das Gute entscheiden, ohne überhaupt noch einen Begriff davon zu haben.
Ein Eingreifen Gottes käme einer Entmündigung des Menschen gleich
Wenn wir von Gott erwarten, in das irdische Geschehen einzugreifen, dann wäre mit Sicherheit nicht erst Auschwitz die Gelegenheit dazu gewesen, sondern bereits das Leiden auch nur eines unschuldigen Kindes. Bereits in diesem Fall hätte seine Untätigkeit als Begründung für den Tod eines allmächtigen Gottes genügt. Und nirgends wurde das eindringlicher beschrieben als in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow. Hier erzählt Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha von einem kleinen Mädchen, das von ihren Eltern gefoltert wurde: »Begreifst du, was das ist, wenn ein kleines Wesen, das sich noch nicht Rechenschaft davon geben kann, was ihm geschieht, sich mit den winzigen Fäustchen an die zerschundene Brust schlägt und in Kälte und Dunkelheit, unter blutigen, arglosen, sanften Tränchen zu seinem »lieben Gott« ruft, er möge es schützen – begreifst Du diesen Widersinn mein Freund und mein Bruder, mein sanftmütiges Mönchlein, begreifst du, was dieser ganze Widersinn soll und wozu er geschaffen ist? Ohne ihn, sagen sie, könne der Mensch auf der Erde kein Mensch sein, weil er Gut und Böse nicht erkennen würde. Aber wozu soll man dieses Gut und Böse, hol´s der Teufel, erkennen, wenn es den Menschen so teuer zu stehen kommt? Die ganze Welt der Erkenntnis ist diese Kindertränchen vor dem ›lieben Gott‹ nicht wert.«
Und so, wie Dostojewski das Leiden eines Kindes gegen Gott anführt, muss man ihm auch das Leiden der Tiere entgegenhalten, das dem menschlichen Leiden in nichts nachsteht. Es gibt nicht viele Theologen, die das getan haben. Einer von ihnen ist Fridolin Stier, der in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch über seine sterbende Katze schreibt: »Das Gehen wurde ihr schwerer. Die Hinterbeine trugen sie nicht mehr, sie schleppte sich nur noch – das sehen zu müssen! Ich sah es, sahst DU es auch? Hast Du es je gesehen – das Elend deiner Kreaturen? Als Schöpfer läßt Du dich glauben und besingen: laudate dominum omnes bestiae, DU! Wär´ ich der Schöpfer, ich rechnete es mir zur Schmach.«
Dem allem ist kaum etwas entgegenzusetzen und es bedarf keines so singulären Verbrechens wie Auschwitz, um den Tod Gottes zu proklamieren. Wenn Gott wirklich tot sein sollte, dann ist er es schon immer gewesen. Denn die Geschichte des Lebens im Allgemeinen und der Menschheit im Speziellen ist immer auch eine Geschichte der Gewalt und des Leidens gewesen. Was wäre also, wenn Gott in das weltliche Geschehen eingreifen würde? Was würde das für uns bedeuten? Es würde bedeuten, dass Gott uns entmündigt, uns nicht zutraut, unser Leben, unsere Probleme selbst in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus würde er uns grundsätzlich die Fähigkeit absprechen, moralische Wesen zu sein. Wir wären wie kleine Kinder, die von den Eltern täglich davon abgehalten werden müssten Falsches, Schlechtes oder Böses zu tun. Gott will uns aber nicht als Kinder, sondern als erwachsene und mündige Menschen. Außerdem würde die Verpflichtung wegfallen, uns moralisch zu verhalten und zu entwickeln, denn wir könnten ja in jedem Augenblick darauf vertrauen, dass Gott eingreift bevor etwas Schlimmeres passiert. Es wäre ein lächerliches, bedeutungsloses und nicht lebenswertes Dasein, denn wir hätten zugleich mit unserer Entmündigung auch unsere Freiheit eingebüßt. Wir wären zwar noch in der Lage Entscheidungen zu treffen, aber diese wären nur noch ein Spiel, ein sinnloser Zeitvertreib. Unser Leben würde seinen Ernst und seine Schwere verlieren. Denn unsere Freiheit besteht eben auch in der Möglichkeit, uns gegen Gott zu entscheiden. So ist das von Menschen in die Welt gebrachte Böse nicht zuletzt der Preis unserer Freiheit. Gott kann nichts tun, außer zu Allem Ja zu sagen oder diese Welt zu einer sinnlosen Theateraufführung mit unreifen Schauspielern zu degradieren.
Gott ist für unsere Taten nicht verantwortlich zu machen
Doch mit dem Verweis auf die menschliche Freiheit ließe sich vielleicht noch das Böse erklären, nicht aber der Schmerz, den Georg Büchner als den »Fels des Atheismus« bezeichnet hat. Der Schmerz, sei er physisch oder psychisch, ist ein Phänomen sui generis und zugleich hat er seine eigene Dialektik. Wir fliehen ihn, wo immer wir können, und sind gleichzeitig auf ihn angewiesen. Schon auf der untersten Ebene des Lebendigen existiert eine Empfindung bzw. ein Körpergefühl dafür, was für den entsprechenden Organismus gut oder schlecht ist. Die positive oder negative Chemotaxis, d. h. die Bewegung hin zu einem Lockstoff oder fort von einem Schreckstoff, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass selbst vergleichsweise einfache Lebewesen wie Bakterien bereits ein (Schmerz)-Gefühl dafür haben, was sie für ihr Weiterleben benötigen und was ihnen schadet. Der Schmerz trägt somit von Beginn an dazu bei, uns vorsichtig in der Welt zu bewegen und ist zugleich ein Mittel, um uns darauf aufmerksam zu machen, wenn etwas in unserem Körper oder unserer Psyche nicht stimmt. So können wir den Schmerz nicht aus der Welt schaffen; das wäre nicht nur tödlich, sondern würde noch dazu das Leben entwerten. Denn »allein über den Schmerz«, schreibt Byung-Chul Han im Rückgriff auf Simone Weil »haben wir Zugang zur Welt, zur Schönheit und auch zur Liebe. Durch den Schmerz dringt die Schönheit der Welt in den Körper ein. Ohne Schmerz sind wir weltlos und seinsvergessen.«
Simone Weil selbst geht mit ihrem Begriff der Décréation noch weiter. Décréation, Entschöpfung, bedeutet für sie vor Gott zu Nichts zu werden. Denn »in dem Maße, als ich nichts werde, liebt Gott sich durch mich hindurch.« Das Mittel dazu ist für sie nicht zuletzt der Schmerz: »Dächte ich, Gott sende mir den Schmerz aus einem Akt seines Willens und zu meinem Wohl, so glaubte ich etwas zu sein, und ich versäumte den Hauptgebrauch des Schmerzes, der darin besteht, mich zu lehren, dass ich nichts bin. Man soll also dergleichen nicht denken. Aber man soll Gott lieben durch den Schmerz hindurch.« Für Simone Weil führt der Schmerz somit gerade nicht zum Atheismus, sondern schafft erst die Voraussetzung dafür, Gott zu erfahren.
So wie das Leben ohne den Schmerz nicht zu haben ist, so ist Gott nicht haftbar zu machen für unsere Verbrechen. Das Wenige, was wir erhoffen dürfen, ist, dass er uns vergibt. So bleibt uns nichts anderes, als diesen Widerspruch, der sich durch uns und die Welt zieht, auszuhalten so wie Hiob es getan hat: »Siehe, zu gering bin ich! Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund.« Und weiter: »Ich habe erkannt, dass du alles vermagst und kein Plan für dich unausführbar ist. (…) Vom Hörensagen hatte ich von Dir gehört, jetzt aber hat mein Auge Dich gesehen. Darum verwerfe ich mein Geschwätz und bereue in Staub und Asche.«
Gott ist nicht verantwortlich für unser Tun und wenn er eingriffe, um unsere bösen Taten zu verhindern, hörten wir auf, Menschen zu sein. Somit hat Dorothee Sölle Recht, wenn sie in Anlehnung an Teresa von Avila schreibt, »dass Gott keine anderen Hände hat als unsere.« Aber nicht, weil es ein ohnmächtiger Gott wäre, sondern weil es ein Gott ist, der uns, was immer wir auch tun, nicht preisgibt. Er traut uns zu, Mensch zu werden; das heißt, zu werden, als was wir von Ewigkeit her gedacht sind. Er weiß, wer wir wirklich sind und wird deshalb seine Hand trotz allem nicht von uns nehmen. Unsere Aufgabe muss es deshalb sein, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, wo immer wir können, um das Vertrauen, das in uns gesetzt ist, zu rechtfertigen. Aber auch wenn wir scheitern – und wir scheitern jeden Tag – dürfen wir gewiss sein, dass dieses Scheitern nicht das letzte Wort ist. Die Tatsache, dass Gott nicht in das weltliche Geschehen eingreift, nährt unsere Hoffnung, dass wir noch nicht verloren sind. Gott hat uns noch nicht aufgegeben und so gibt es auch für uns keinen Grund aufzugeben.
Am Ende stellt Iwan Karamasow seinem Bruder die entscheidende Frage: »Stell dir vor, du wärst es, der den Bau des menschlichen Schicksals errichtet, mit dem Ziel, die Menschen im Finale glücklich zu machen, ihnen endlich Ruhe und Frieden zu schenken, aber mit der unerläßlichen, unvermeidlichen Bedingung, auch nur ein einziges, winziges Wesen zu Tode zu martern […] – würdest du einwilligen, unter dieser Bedingung der Architekt zu sein […]?« Doch ist es überhaupt legitim, diese Frage zu stellen? Der evangelische Theologe Fritz Maass sagt dazu, dass »in der Verkraftung des Schicksals jeder ganz auf sich selbst gestellt ist und gefragt, ob er Gott als Vater, als Dämon oder überhaupt nicht erfahren hat, ob er das Schicksal bejaht oder verneint. Das Leiden andrer rechtfertigt also nicht den Protest gegen das Schicksal; und wer den Protest wegen seines eignen Leidens erhebt, steht abseits von der Bejahung im Geist des Gekreuzigten.«
Wir würden Iwans Frage so gerne verneinen, wie Aljoscha es getan hat, und ahnen doch gleichzeitig, dass diese Schöpfung trotz allem besser sein muss als das Nichtsein. Es ist dieser ungeheure Widerspruch, der sich durch die gesamte Schöpfung zieht und von uns im Hier und Jetzt nicht aufgelöst werden kann. Dass er einmal aufgelöst wird, ist die Verheißung Gottes. »Und bis dahin«, sagt Jürgen Moltmann, »würde ich nicht gegen Gott protestieren, sondern Gott als Gehilfen für meinen Protest gegen das Töten in Anspruch nehmen. Gott ist der heftigste Protest gegen das Töten.«
So bleibt uns nur, zu hoffen, wo eigentlich nichts zu hoffen ist, wie es bei Paulus heißt. Es bleibt nur die Hoffnung, dass Gott unser Leiden sieht (»gesehen habe ich das Elend meines Volkes […]; ja, ich kenne seine Schmerzen«, 2. Mose 3,7), auf unsere Schmerzensschreie antwortet und am Ende »die Liebe ohne die Verhüllung durch die Welt hervortreten wird und ›Gott sein wird alles und in allem.‹« (Emil Brunner) Und auf diese Hoffnung trotz all des Leidens, der Ungerechtigkeit und des Bösen in der Welt zu vertrauen ist eine ungeheure Zumutung. Glauben ist wohl genau das.