In seinem viel zitierten Buch Zufall Mensch schrieb der Biologe Stephen Jay Gould (1941-2002) vor fast dreißig Jahren: „Selbst wenn Sie das Band [des Lebens] millionenmal… ablaufen lassen, bezweifle ich, dass sich nochmals so etwas wie ein Homo sapiens entwickeln würde.“ Er war demnach davon überzeugt, dass der Zufall – Gould spricht in diesem Zusammenhang von Kontingenz – in der Evolution eine wesentliche Rolle spielt und der Mensch somit ein nicht wiederholbares Ereignis in der Entwicklung des Lebens darstellt.
Mittlerweile gibt es allerdings nicht wenige Wissenschaftler, die das bestreiten. Einer von ihnen ist der britische Paläontologe Simon Conway Morris, der als führender Vertreter der Konvergenztheorie der Meinung ist, dass die Evolution stark deterministisch verläuft und somit auch der Mensch nicht lediglich eine Laune im großen Spiel der Natur ist, sondern vielmehr fast unausweichlich entstehen musste. Selbst Leben auf anderen Planeten könnte dieser Theorie zufolge dem Leben auf der Erde ähnlicher sein, als wir gemeinhin glauben.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich Jonathan Losos, Professor für evolutionäre Biologie in Harvard. Als einer der wichtigsten Protagonisten der experimentellen Evolutionsforschung geht er der Frage nach, inwieweit die Evolution determiniert und damit vorhersagbar ist. Dabei gibt er uns viele interessante Einblicke in seine eigenen Experimente und die seiner Kollegen und schreibt so nebenbei eine kleine Geschichte der experimentellen Biologie. Das tut er sehr detailreich und gelegentlich ein wenig zu ausführlich. Doch Losos schreibt so locker und stellenweise witzig, dass man über die ein oder andere Länge gerne hinwegliest.
Evolution lässt sich quasi in Echtzeit beobachten
Darwin war noch der Meinung, Evolution würde sich ausschließlich in gewaltigen Zeiträumen abspielen. Heute weiß man, dass es in vielen Fällen möglich ist, ihr in Echtzeit dabei zuzusehen, wie sich schon nach wenigen Generationen phänotypische Anpassungen als Reaktion auf eine veränderte Umwelt einstellen. Mit seinen eigenen langjährigen Experimenten mit Eidechsen konnte Losos beispielsweise zeigen, dass sich die Beinlänge der Tiere verändert, je nachdem, ob sie einem Fressfeind ausgesetzt waren oder nicht.
Experimente belegen zudem, dass sich zwei nicht miteinander verwandte Spezies an eine spezielle Umgebung in etwa der gleichen Art und Weise anpassen. Und nicht selten sind unterschiedliche Arten, die sich geographisch weit voneinander entfernt entwickelt haben, zu den gleichen Lösungen gekommen. Das Auge, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde unabhängig voneinander mehrmals von der Natur „erfunden“. „Diese Erkenntnisse legen nahe, dass die Evolution immer wieder den gleichen Weg nimmt, zumindest auf der makroskopischen Ebene – identische Populationen, die identischem Selektionsdruck ausgesetzt sind, entwickeln sich gewöhnlich auf ganz ähnliche Weise.“
Allerdings gäbe es, so der Autor, während dieser Entwicklung immer wieder Mutationen, die zu völlig neuen, unvorhersehbaren Ergebnissen führen können. Wenn mehrere dieser Mutationen in „genau der richtigen Reihenfolge“ auftreten, könnten sie „eine große Wirkung haben und die Evolution einen anderen, ganz neuen Weg nehmen lassen.“
Dabei geht Losos leider nicht darauf ein, wodurch diese Mutationen ausgelöst werden und welche Rolle der betreffende Organismus dabei spielen könnte. Überhaupt bleibt hier die Sicht auf das Leben sehr darwinistisch und damit nicht auf der Höhe der Zeit. Man liest viel von „natürlicher Selektion“, „Adaption“ und „Mutation“, ohne dass diese durchaus hinterfragbaren Begriffe, die noch dazu nur über eine begrenzte argumentative Reichweite verfügen, weiter erläutert würden. Auch von der Subjektivität des einzelnen Organismus ist bei Losos nicht die Rede. Genau wie beim Autor der Entstehung der Arten werden Organismen als vorwiegend passiv dargestellt und natürlich wird ihnen jegliche Teleologie abgesprochen. Der große Schweizer Biologe Adolf Portmann (1897-1982) war da schon weiter, als er schrieb, dass „diese besondere Zebrastreifung, diese Windung der Antilopenhörner, diese Barttracht einer Wildziege, jene Wamme eines Rinderhalses […] nie eine Erklärung in der notwendigen Seite ihrer Leistung [findet]. Im Darstellungswert wird jede elementare Notwendigkeit überschritten.“ Auch findet man in diesem Zusammenhang kein Wort zu den bahnbrechenden Ideen und Forschungen des britischen Biologen Conrad Hal Waddingtons (1905-1975), der ebenfalls der Überzeugung war, dass natürliche Selektion allein als Erklärungsmodell nicht ausreicht.
Konvergenz ist keine Ausnahme
Wie auch immer. Losos ist durchaus der Meinung, dass Konvergenz keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel innerhalb der Evolution darstellt. Er hält es auch durchaus für möglich, dass Lebewesen auf anderen Planeten zum Teil ähnliche Lösungen entwickelt haben könnten wie das irdische Leben und „dies gilt umso mehr, als Gravitation, Thermodynamik, Strömungsmechanik und andere physikalische Phänomene überall gelten.“ Doch letztlich schlägt sich der Autor doch überwiegend auf die Seite Goulds. Er glaubt zwar, dass Evolution auf kurze Sicht bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar sei, auf längere Sicht aber keine zuverlässigen Prognosen mehr zuließe. „Wenn nur eines von zahllosen Ereignissen in der Vergangenheit anders verlaufen wäre, hätte es Homo sapiens nie gegeben. Unsere Entstehung war keineswegs unvermeidlich, und wir haben Glück, dass wir hier sind, dass sich die Ereignisse so abgespielt haben, wie sie es taten.“
Eine überzeugende Antwort, auf die in diesem Zusammenhang wirklich interessante Frage, ob der Mensch fast zwangsläufig entstehen musste, wie es die starke Ausformulierung der Konvergenztheorie behauptet, muss dabei auch Losos naturgemäß schuldig bleiben. Losos glaubt nicht an diesen strengen Determinismus und fragt vielmehr zurück, warum die Entstehung des Menschen dann nur einmal passiert sei, wenn sie doch so unvermeidbar war? So zeigt sich, dem Autor zufolge, dass konvergente Evolution zwar sehr weit verbreitet ist, diese Erkenntnis aber nicht genügt, um die These von unserer „evolutionären Unvermeidbarkeit“ hinreichend zu stützen.
Losos vertritt eine konservative Sicht der Evolution
Wenn er am Ende des Buches schreibt, dass der Mensch das „Ergebnis von Milliarden Jahren natürlicher Selektion und den Glücksfällen der Geschichte“ ist, offenbart sich noch einmal der konservative Ansatz in der Beschreibung der Evolution des Lebens. Denn natürliche Selektion allein könnte niemals in der Lage sein, intelligente Lebewesen hervorzubringen. Sie würde bereits viel früher, nämlich bereits auf molekularer Ebene, scheitern, denn, so hat es der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead formuliert, „der ursprüngliche Stoff oder das Material, von dem eine materialistische Philosophie ausgeht, ist der Evolution unfähig…, weil eine Menge von äußeren Relationen so gut wie jede andere ist. Möglich ist allein eine nicht zweckgerichtete und nicht fortschreitende Veränderung. Aber die ganze moderne Lehre läuft darauf hinaus, dass eine Evolution der komplexen Organismen aus früheren Zuständen weniger komplexen Organismen stattfindet. Die Lehre schreit daher geradezu nach einer Konzeption des Organismus, wie er für die Natur grundlegend ist.“ Treffender lässt sich das kaum formulieren und da würde auch die schönste „natürliche Selektion“ nicht weiterhelfen.
Ohnehin haben Begriffe wie Glück oder Zufall in den Wissenschaften nichts zu suchen, da sie keine Erklärungen liefern, sondern vielmehr eine Bankrotterklärung der Vernunft darstellen. In diesem Zusammenhang von Glück zu sprechen wird der Problematik deshalb nicht gerecht. Nur wenn man die ganze Entwicklung rückwirkend betrachtet und von einem vorher festgelegten Endergebnis ausgeht, könnte man von einem glücklichen Zufall sprechen, hätte die Evolution genau zu diesem Ergebnis, in diesem Fall zur Entwicklung des Homo sapiens geführt. Das wäre dann allerdings der Gipfel des Anthropozentrismus und mit Sicherheit auch vom Autor nicht so gemeint.
Jonathan B. Losos: Glücksfall Mensch. Ist Evolution vorhersagbar? Hanser Verlag, München 2018. 381 Seiten, 26 Euro
Die traditionelle Genetik hat ausgedient. Es lebe die Neue Genetik – die Epigenetik!Es ist nicht nur bedauerlich, dass ausgerechnet Naturwissenschaft so lange braucht, Sackgassen zu verlassen und irrige Ansichten einzuräumen. Es ist vor allem erschreckend, dass seit mehr als hundert Jahren die Erkenntnisse Lamarcks – in unseren Universitäten zum Teil bis heute! – ignoriert und niedergemacht werden. Obwohl Sie in Ihrer Rezension mit keinem einzigen Wort auf epigenetische Mechanismen eingehen, haben mir Ihre Überlegungen sehr gut gefallen.