Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein Alles vor dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und Allem.
Unendlich weit entfernt davon, die Extreme zu begreifen, sind ihm das Ende der Dinge und ihr Ursprung unüberwindlich verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis;
er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er hervorgezogen wurde, wie das Unendliche, in das er verschlungen ist.
Was bleibt ihm also übrig, als einen Schein von der Mitte der Dinge zu erfassen, in einer ewigen Verzweiflung, weder ihren Ursprung noch ihr Ende zu erkennen?
Alle Dinge sind dem Nichts entwachsen und ragen ins Unendliche hinein.
Wer kann diesen erstaunlichen Schritten folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie. Kein anderer vermag es.
(Blaise Pascal, Gedanken)

Und so haben wir denn […] allen Grund zu behaupten,
dies Weltall sei ein beseeltes und in Wahrheit vernünftiges Geschöpf […].
(Platon, Timaios)

Spätestens seit 1927, dem Jahr der sogenannten „Kopenhagener Deutung“ der Quantenmechanik, wovon gleich noch die Rede sein wird, wissen wir oder könnten vielmehr wissen, dass unser bisheriges materialistisches Weltbild obsolet geworden ist. Interessanterweise ist die Radikalität der philosophischen Implikationen dieses neuen physikalischen Weltbildes bis heute kaum zur Kenntnis genommen worden. Noch immer zeichnen sich unsere Wissenschaften, allen voran die Biologie und Hirnforschung, aber auch die Medizin, durch einen geradezu naiv zu nennenden materialistischen Ansatz aus. Gerade die Biologie wäre gut beraten, ihre reduktionistische Perspektive zu überwinden, um einen anderen Blick auf das Lebendige zu gewinnen, das ihnen so fortwährend entgleitet. Die Hirnforschung steht aufgrund dieses Ansatzes noch immer vor dem unlösbaren Problem, das Bewusstsein auf materielle Strukturen bzw. neurophysiologische Prozesse zurückzuführen, aber auch die Medizin würde von einer Änderung ihrer Blickrichtung profitieren, was Ätiologie, Diagnose und vor allem Therapie anbelangt.

Es geht hier nicht darum, die positivistische Methode der sogenannten exakten Wissenschaften in Frage zu stellen. Diese ist nach wie vor unerlässlich, um zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen. „Sogenannte exakte Wissenschaften“ übrigens deshalb, da Kant schon den Fehler gemacht hat zu glauben, es gäbe nur so viel Wissenschaft, wie Mathematik in ihr ist. Friedrich Georg Jünger schrieb dazu ganz treffend: „Der gleiche Irrtum findet sich bei vielen Mathematikern und Physikern, die allein exakt zu sein glauben. Sie sind es aber nur auf ihrem Gebiete. In den Bewegungen der Tiere, in den Empfindungen und Leidenschaften der Menschen ist auch Exaktheit. Ein homerischer Hexameter oder eine Ode von Pindar sind nicht weniger exakt als irgendein Kausalverhältnis oder eine mathematische Formel. Diese rhythmische, metrische Exaktheit ist nur eine andere, höhere. Wenn sie nicht berechenbar ist, so ist das noch kein Grund, sie für unzuverlässiger zu halten als das Ergebnis irgendeiner Quantenmessung.“ (Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik. 8. Auflage Frankfurt am Main: Klostermann 2010. S. 62.)

Was hier angemahnt werden soll, ist lediglich das Vergehen, diese Methode zur Weltanschauung gemacht zu haben. Das aber ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern schlicht und ergreifend falsch und eine unzulässige Erweiterung des positivistischen Ansatzes. Darüber hinaus basiert dieses Vorgehen auf einem gänzlich überholten Materiebegriff, der ein Kind des 19. Jahrhunderts ist und dessen Wurzeln bis in die vorsokratische Philosophie hineinreichen.

Eine kleine Geschichte des philosophischen Materialismus

Seit Leukipp und seinem Schüler Demokrit war die vorherrschende Meinung in der Philosophie, dass die Materie aus kleinen, unteilbaren Teilchen, den Atomen (abgeleitet vom griechischen „ἄτομος”was übersetzt etwa „unzerschneidbar“ bedeutet), aufgebaut ist. Nach Demokrit gibt es nur Atome und den leeren Raum. Die Atome versteht er als unteilbare, qualitätslose und unveränderliche Substanzen. Wenn sie sich einander nähern, zusammentreffen und vereinigen, was nach mechanischen Gesetzmäßigkeiten geschieht, entstehen als Ergebnis dieser Vereinigung die verschiedenen, uns bekannten Phänomene wie Feuer oder Wasser bis hin zu den Lebewesen. Alles aber entsteht aus diesen Atomen, denn, so Demokrit, „aus dem Nichtseienden kann nichts entstehen.“ Das war natürlich insofern ein revolutionärer Gedanke, als er den Widerspruch auflöste, der zwischen den beiden unvereinbaren, sich monolithisch gegenüberstehenden naturphilosophischen Anschauungen des Heraklit und des Parmenides bestand.

Heraklit glaubte an eine dynamische Welt der dauernden Veränderung. Von ihm stammt der berühmte Satz, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, denn alles  fließe („panta rhei“) und unterliege einem stetigen Wandel. Parmenides dagegen favorisierte eine statische Natur und war der Meinung, dass das Seiende ungeworden, unvergänglich, unzerstörbar und vor allem ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes sei. Die unveränderlichen und unteilbaren Atome des Demokrit repräsentieren damit die statische Welt des Parmenides, während die Veränderung, an die Heraklit glaubte, möglich wurde durch die Verbindung dieser Atome untereinander.

Wie erstaunlich der Gedanke des Demokrit etwa 500 Jahre vor Christus war, lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich einen Moment in die geistige Situation dieser Zeit versetzt – sofern das überhaupt möglich ist. Demokrits Zeitgenossen bewegten sich in einer mystischen, das heißt geheimnisvollen Welt voller Götter, Halbgötter und Dämonen. Alle Naturerscheinungen wurden durch das Wirken dieser Wesen erklärt. Erst Demokrit und andere herausragende Denker seiner Zeit vollzogen den gewaltigen Schritt vom Mythos zum Logos, indem sie eine Natur zeigten, die von Gesetzen bestimmt wird und somit berechenbar ist. Erst die Quantenmechanik sollte diese vermeintliche Berechenbarkeit der Natur in Frage stellen und nicht zuletzt deshalb sind ihre Ergebnisse so schwer zu akzeptieren, da sie mit dem jahrtausendealten Dogma von der Erkennbarkeit der Natur bricht.

Dieser wirkungsmächtige Gedanke des Demokrit wird zwar vorerst durch Platons Ideenlehre und die Aristotelische Substanzmetaphysik zurückgedrängt, bahnt sich aber – nicht zuletzt durch die Vermittlung Epikurs und Lukrez‘ – unterschwellig seinen Weg durch die Jahrhunderte, um im französischen Materialismus und besonders in den empirischen Wissenschaften der Neuzeit eine fulminante Renaissance zu erleben. So konnte auch Isaac Newton ca. 2200 Jahre später in dem „Queries“ genannten Anhang der 1704 erschienenen „Opticks“ schreiben, „im Hinblick auf alle diese Tatsachen scheint es mir, daß Gott im Angang die Materie als massive, undurchdringliche, aber bewegliche Teilchen schuf – als am besten seinen Absichten entsprechend –, und daß diese Urteilchen unvergleichlich härter sind als alle aus ihnen aufgebauten Körper, so hart, daß sie niemals verschleißen oder in Stücke brechen, und daß keine gewöhnliche Macht das teilen kann, was Gott im Anfang als eines schuf“ (No ordinary Power being able to divide what God himself made One in the first Creation).

Wie stark dieser Gedanke der atomaren Struktur von Materie wirkt, zeigt sich noch bei dem renommierten Physiker und (aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus) verhinderten Nobelpreisträger Pascual Jordan, der selbst maßgeblich an der Ausarbeitung der Quantenmechanik beteiligt war, indem er in seinem 1970 erschienenen Buch „Schöpfung und Geheimnis“ schreibt: „und dass die Materie tatsächlich aus kleinen Teilchen besteht, daran ist nicht mehr zu rütteln.“ – Er hätte es eigentlich besser wissen müssen.

Die Entwicklung der Quantenmechanik

Der Beginn der Quantenmechanik fällt zusammen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und hat sich, so hat es der Physiker, Nobelpreisträger und Begründer der Molekularbiologie Max Delbrück einmal beschrieben, in fünf aufeinanderfolgenden Stufen vollzogen: Auf der ersten Stufe führte Max Planck in einem – wie er selbst schrieb – Akt der Verzweiflung im Jahr 1900 den Begriff des „Wirkungsquantums“ ein, der besagte, dass die in einer einzelnen Welle steckende Energie nicht jeden beliebigen Wert annehmen kann, sondern gebündelt, das heißt quantisiert auftritt. Ein Akt der Verzweiflung war es deshalb, da das jahrtausendealte Dogma vom Fließen aller natürlichen Vorgänge („Natura non facit saltus“, „die Natur macht keine Sprünge“) radikal in Frage gestellt wurde.

Auf der zweiten Stufe konnte Albert Einstein zeigen, dass Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen auftreten kann. Diese masselosen, aber energiereichen Teilchen bzw. Wellen des Lichts bezeichnete er als Photonen. Er offenbarte somit als Erster die duale Eigenschaft des Lichts.

Auf der dritten Stufe zeigte Niels Bohr, dass das Atommodell von Ernest Rutherford fehlerhaft sein musste. Ein geladenes Teilchen (Elektron), das sich auf einer Bahn um ein elektrisches Feld (Atomkern) bewegt, würde nach den Gesetzen der klassischen Physik Energie verlieren und früher oder später in den Atomkern stürzen. Dieses Problem löste Bohr im Jahr 1913, indem er das Plancksche Wirkungsquantum h in die Dynamik des Elektrons einführte und erklärte, dass Elektronen in gewissen Bahnen stabil sind, aber die Fähigkeit besitzen, von einer Bahn auf eine andere zu wechseln und dabei Energie in Form von Quanten emittieren oder absorbieren, je nachdem ob sie von einer inneren auf eine äußere Bahn wechseln oder umgekehrt. Dabei stimmt das von den Atomen emittierte Licht nicht mit den Frequenzen überein, mit der die Elektronen den Atomkern umkreisen, sondern ist abhängig vom Unterschied der Frequenzen der jeweiligen Umlaufbahnen (Orbitale) zwischen denen das Elektron gesprungen ist. Bohrs Atommodell, in dem sich die Elektronen um den Atomkern bewegen wie die Planeten um die Sonne, hatte zwar einen großen ästhetischen Reiz, da es so aussah als ob der Mikrokosmos lediglich das verkleinerte Spiegelbild makrokosmischer Vorgänge ist, war aber wie sich herausstellte falsch. Heute wissen wir, dass die Elektronen keine festen Bahnen haben, auf denen sie den Atomkern umkreisen, sondern in „Wahrscheinlichkeitswolken“ um den Kern gruppiert sind.

Auf der vierten Stufe behauptete Erwin Schrödinger in seiner Wellenmechanik von 1926 den Welle-Teilchen-Dualismus auch für das Elektron, was im Folgenden auch experimentell bestätigt wurde. 1925 schließlich war die „Verwirrung“ komplett, als Werner Heisenberg seine Matrizenmechanik vorstellte, in der er zeigte, dass sich Ort und Impuls (Masse mal Geschwindigkeit) eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt bestimmen, sondern nur noch in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken lassen.

Auf der fünften Stufe schließlich mündeten alle diese Ergebnisse in den Begriff der „Unbestimmtheitsrelation“ durch Werner Heisenberg einerseits und andererseits in den Begriff der „Komplementarität“ durch Niels Bohr.

1927 schließlich wurden diese unserem Alltagsverstand zutiefst zuwiderlaufenden Ergebnisse in der bereits angesprochenen Kopenhagener Deutung in ein kohärentes System gebracht. Danach sind sowohl Komplementarität (Welle-Teilchen-Dualismus) als auch Unbestimmtheitsrelation (Indetermination) nicht Fehler der Theorie, sondern fundamentale Eigenschaften der materiellen Welt. In seinem Buch „Der Teil und das Ganze“ zitiert Werner Heisenberg Niels Bohr mit den Worten, „es wird doch zum Beispiel immer wieder gesagt, daß die Quantentheorie unbefriedigend sei, weil sie nur eine dualistische Beschreibung der Natur mit den komplementären Begriffen ,Welle’ und ‚Teilchen’ gestattete. Wer die Quantentheorie wirklich verstanden hat, würde aber gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, hier von einem Dualismus zu sprechen. Er wird die Theorie als eine einheitliche Beschreibung der atomaren Phänomene empfinden, die nur dort, wo sie zur Anwendung auf die Experimente in die natürliche Sprache übersetzt wird, recht verschieden aussehen kann. Die Quantentheorie ist so ein wunderbares Beispiel dafür, daß man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, daß man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann.“ (Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. 4. Aufl. München: Piper 2002. S. 246.)

Die Unbestimmtheitsrelation

Zunächst geht es im Folgenden um diese beiden Begriffe der Unbestimmtheitsrelation und damit verbunden um die Kausalität bzw. Akausalität physikalischer Prozesse sowie der Komplementarität und damit verbunden um den Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete, da ihre Aussagen wesentliche Bereiche der Philosophie und unserer Weltanschauung betreffen. Betroffen ist zum einen das Problem der Freiheit bzw. Determiniertheit des Menschen (Unbestimmtheitsrelation) und zum andern das Leib-Seele-Problem sowie das epistemologische Problem der Existenz und Beschaffenheit der Außenwelt (Komplementarität). Aber erst einmal zur Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation.

Wie bereits angedeutet wurde, war die Welt Demokrits und später Newtons relativ überschaubar. Wollte man wissen, in welchem momentanen Zustand sich beispielsweise unser Sonnensystem mit seinen acht Planeten (Pluto gehört seit 2006 nicht mehr dazu) und den dazugehörigen Monden befindet, benötigte man lediglich einige Daten. Das waren die Massen der Himmelskörper, die Kenntnis ihrer momentanen Orte relativ zur Sonne und ihre augenblicklichen Geschwindigkeiten jeweils nach Richtung und Größe. Mit Hilfe dieser wenigen Daten ließe sich jetzt ohne Weiteres berechnen, in welchem Zustand sich das Sonnensystem zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet.

Es wäre auch kein Problem, die Daten weit in die Zukunft hinein zu extrapolieren. Es handelt sich also hierbei um ein determiniertes, das heißt vorausbestimmtes und vorausbestimmbares System. Was uns aber an dieser Stelle interessiert, ist weniger unser Sonnensystem als vielmehr die Möglichkeit oder Unmöglichkeit unserer eigenen Determiniertheit als menschliche Individuen. Hat der Mensch zumindest die Möglichkeit der Freiheit oder ist er so berechenbar wie unser Sonnensystem und nichts anderes als ein von einem Uhrmacher geschaffenes, zwar kompliziertes, aber doch kausal determiniertes Gebilde (Uhrwerk), das nach strengen Regeln abläuft und keinerlei Spielräume hat?

Die Antwort von Julien-Offray de la Mettrie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dazu war eindeutig. In seinem 1747 erschienen Buch „L´homme machine“ (Der Mensch eine Maschine) fasst er den Menschen als eine rein physiologisch zu verstehende, determinierte lebende Maschine auf und radikalisierte damit das cartesianische Denken oder vielmehr reduzierte es auf seinen naturalistischen Teil („res extensa“). Zu Lebzeiten verspottet, verfolgt und ins Exil getrieben entfaltete sich seine Wirkung erst zirca einhundert Jahre später und sollte einen großen Einfluss auf Charles Darwin ausüben. Somit zieht sich ein roter Faden des materialistischen, kausalen Denkens von Demokrit über Newton, Descartes, Lammetrie und Darwin bis hin zur heutigen synthetischen Theorie vom Schlage eines Richard Dawkins.

Dass durch dieses Denken die beiden großen Fragen der Evolution, nämlich der Übergang von „toter“ zu lebender Materie und der vielleicht noch größere Hiatus zwischen unbewussten materiellen Strukturen und Bewusstsein nie geklärt werden wird, liegt auf der Hand. Die Einführung des Emergenzbegriffes („Übersummativität“) verschiebt das Problem nur, ohne es zu lösen, da er nicht erklärt, was und warum etwas emergiert. Aber das nur am Rande und zurück zur Freiheit.

Solange man also der Meinung war, dass alles aus kleinen, unzerstörbaren Teilchen bestand, vergleichbar etwa mit Billardkugeln, die lediglich auf Druck und Stoß reagieren, war es naheliegend und seinerzeit nur folgerichtig, auch den Menschen, da er wie alles andere auch aus diesen Teilen aufgebaut ist, als eine lückenlos determinierte Maschine aufzufassen. Erst Werner Heisenberg sollte diesem Denken mit seiner Unbestimmtheitsrelation endgültig die wissenschaftliche Grundlage entziehen, denn im mikrophysikalischen Bereich gelten offenbar andere Gesetze.

Heisenberg hat eindeutig gezeigt, dass sich Ort und Impuls eines Teilchens niemals gleichzeitig mit hinreichender Genauigkeit bestimmen lassen. Je genauer ich etwas über den Ort sage, desto ungenauer wird meine Angabe über den Wert des Impulses und umgekehrt. Um aber exakt bestimmen zu können, wo sich ein Teilchen, das sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt und gerade noch an einem bestimmten Ort war in, sagen wir, fünf Sekunden befinden wird, brauche ich exakte Daten sowohl über den Ort als auch über die Geschwindigkeit – und genau diese gleichzeitige Bestimmung der Daten ist nicht mehr möglich.

Eng mit der Unbestimmtheitsrelation hängt die Frage der Kausalität physikalischer Prozesse zusammen. Noch Kant war der Meinung, Kausalität wäre eine dem menschlichen Verstand „a priori“, das heißt vor aller Erfahrung, gegebene Kategorie. Danach sind wir gar nicht in der Lage etwas zu erkennen, ohne dass das von uns Erkannte kausal geschlossen ist. Die Kausalität ist demnach eine „transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis“, so Kant.

Wir wissen heute, dass Kausalität zumindest im mikrokosmischen Bereich nicht existiert. Da „Teilchen“ eben keine Teilchen sind, sondern Welle/Teilchen, die sich über einen größeren Raum ausbreiten, können wir im Augenblick des Betrachtens den Ort, an dem ein Teilchen sich manifestieren wird, nicht im Voraus bestimmen. Das Verhalten dieses Teilchens ist also durch und durch indeterminiert. Ebenso der radioaktive Zerfall bestimmter Elemente. Es gibt keine Möglichkeit, im Voraus zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt ein einzelnes Atom dieses Elementes zerfallen wird. Wir wissen, dass es zerfallen wird, aber wir können keine Ursache angeben, warum es zerfällt, und keinen Zeitpunkt, wann es zerfällt. Dass es trotzdem eine statistische Genauigkeit gibt (Halbwertszeit), mit der sich der radioaktive Zerfall angeben lässt, ist ein bisher ungeklärtes Phänomen und deutet auf eine Kraft hin, die aus der Unordnung Ordnung schafft. So konnte Heisenberg feststellen, „dass die Quantenphysik die definitive Widerlegung des Kausalitätsprinzips ist.“

Wenn man also davon ausgeht, dass auf mikrophysikalischer Ebene das Kausalitätsprinzip außer Kraft gesetzt und somit das Universum und alles in ihm Vorkommende nicht lückenlos determiniert ist, so haben einige Wissenschaftler daraus gefolgert, dass auch lebende Wesen die Möglichkeit zur Freiheit und Spontaneität hätten und darauf hingewiesen, dass der Grad der Freiheit mit steigender Komplexität des Lebendigen ansteigen würde. Das alles ist allerdings nur die naturalistische Annäherung an das Problem der menschlichen Freiheit und hat den wirklichen Freiheitsbegriff noch gar nicht berührt. Denn dieser hat seine Wurzeln im Transzendenten und versteht darunter eine „von oben kommende“ und uns in jedem Augenblick geschenkte Freiheit, denn unbestreitbar lässt sich menschliche Freiheit nicht auf physikalische Prozesse reduzieren. 

Komplementarität

Die zweite, wesentliche Implikation der Quantenmechanik, ausgedrückt durch den Begriff der Komplementarität, betrifft zwei der größten Probleme in der Geschichte der Philosophie. Zum einen das sogenannte Leib-Seele-Problem (bzw. Geist-Hirn-Problem) und zum anderen das Problem der Außenwelt, das spätestens mit Descartes ins Zentrum des philosophischen Fragens gerückt ist.

Bereits Platon hatte die Welt in zwei Teile aufgespalten: In die intelligible, das heißt nur dem Verstand zugängliche Welt der ewigen und unzerstörbaren Ideen und in die mit den Sinnen erfassbare Welt der veränderbaren Materie, die lediglich ein Abbild dieser Ideen darstellt. Wer in diesem Modell die beiden modifizierten Anschauungen Heraklits und Parmenides wiederzufinden glaubt, irrt sich nicht. Das ewige Werden Heraklits zeigt sich in der sinnlich fassbaren Welt, während das ewige, unzerstörbare Seiende des Parmenides sich in den Ideen manifestiert. So wie bei Demokrit war also auch Platons Philosophie nicht zuletzt der Versuch, divergierende Anschauungen zu vereinen.

Bei René Descartes verläuft die Trennlinie zwischen Materie und Geist sozusagen durch den Menschen hindurch. Bei ihm gibt es das Körperliche, Ausgedehnte („res extensa“) und das Unkörperliche, Geistige („res cogitans“). So wie Platons Welten durch einen Abgrund („chorismos“) getrennt sind, so sind es auch die beiden Reiche des Descartes. Denn bis heute ist es eine ungeklärte Frage, wie der Geist mit der Materie interagiert. Auf die einzelnen Theorien zur Philosophie des Geistes (Identitätstheorie, Epiphänomenalismus, Supervenienz, Funktionalismus, u.a.) einzugehen, würde den Umfang dieses Essays bei Weitem sprengen, nur so viel: Solange man davon ausgeht, dass es zwei getrennte Bereiche gibt, nämlich die Welt des Geistes und die Welt der Materie, steht man vor unlösbaren Problemen, wie sich das Zusammenspiel dieser beiden Qualitäten gestaltet.

Der Komplementaritätsbegriff zeigt aber eine Möglichkeit auf, diesem Dualismus zu entkommen, indem er, auf den Menschen übertragen, das Problem der Interaktion zwischen Materie und Geist zumindest entschärft, da es sich eben um keine qualitativ grundsätzlich voneinander geschiedenen Qualitäten handelt. So wie Materie gleichzeitig Welle und Teilchen und trotzdem eine Ganzheit ist, so ist der Mensch eine psychophysische Einheit und Materie und Geist sind nur zwei Attribute des für uns unerkennbaren Urgrunds. Alle geistigen und körperlichen Prozesse spielen sich auf diesem Grund ab. Was wir wahrnehmen, sind nur – um es bildlich zu formulieren – die Schaumkronen der einzelnen Wellen im unendlichen Ozean. Der Ozean selbst entzieht sich unserer Erkenntnis, was nicht bedeutet, dass wir nicht immer tiefer in ihn eintauchen könnten.

Wie bereits oben zitiert, hat die Quantenmechanik nicht verstanden, der sie für dualistisch hält. Sie ist durch und durch holistisch, das heißt ganzheitlich. Es gibt nicht entweder Teilchen oder Wellen, es gibt nur Teilchen/Wellen, auch wenn das für unseren Verstand nicht logisch und schon gar nicht vorstellbar ist. Wir müssen uns endgültig von der alten Vorstellung befreien, dass Materie eine feste, sozusagen körnige Struktur hat und als eine solche Substanz der Substanz des Geistes gegenübersteht. Es war Ernst Bloch, der diese Anschauung einmal als „Klotzmaterialismus“ verspottet hat. Je tiefer wir in die Materie eindringen, umso mehr verliert sie gerade diesen festen Charakter und löst sich auf in ein Geflecht von Beziehungen.

Streng genommen müsste man sagen, dass es so etwas wie Materie überhaupt nicht gibt. Durch unsere tägliche Erfahrung im „mesokosmischen“ (Vollmer), also im mittleren kosmischen Rahmen, haben wir uns allerdings so daran gewöhnt, mit festen materiellen Dingen umzugehen, dass es jenseits unserer Vorstellungskraft liegt, Materie so wie wir sie wahrnehmen, könnte nur eine menschliche Variante der Wahrnehmung von etwas sein, was uns vielleicht für alle Zeiten unbekannt bleiben wird. Und dabei ist nicht das Kantsche „Ding an sich“ gemeint, denn der Grund des Daseins ist mit Sicherheit kein Ding und Kant irrt hier ohnehin gewaltig, wenn er glaubt, der Welt alle Qualitäten absprechen zu können, um sie ins Individuum zu verlagern. Die Welt der Erscheinungen (nicht des Scheins) ist und bleibt für den menschlichen Verstand bodenlos. Selbst wenn es uns eines Tages möglich sein wird, noch tiefer in die materiellen Strukturen einzudringen, werden wir den Grund doch niemals erreichen. „Vielmehr ist die Materie offen für die Erforschung ins Unendliche hin, nicht das Vorhandensein eines Urstoffes. Alle Stoffe sind Erscheinungen, nicht Grundwirklichkeiten. Das Wesen der Materie bleibt unbestimmbar.“ (Karl Jaspers: Kleine Schule des philosophischen Denkens. 10. Aufl. München: Piper 1985. S. 22.)

Das Problem der Physik besteht immer noch in dem Irrglauben, man könne ein letztes Teilchen finden. Es gibt kein letztes Teilchen, weil es keine Teilchen gibt. Wenn der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt, „daß die Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können, was den Gesetzen der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt“, (Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Einheit der Natur. 4. Aufl. München: Hanser 1972. S. 289), hat er insofern Recht, dass er beide Qualitäten gleichsetzt. Aber um wirklich zu begreifen, was das Wesen der Materie bzw. des Geistes ist, müssten wir in der Lage sein, noch ein paar Stufen tiefer hinabzusteigen, als wir das bisher getan haben. Noch dazu wird es mit ein paar Stufen vielleicht nicht getan sein, denn möglicherweise müssten wir unendlich viele Stufen tiefer gehen, bis zur Selbstauslöschung des Seienden selbst.

Die Unhintergehbarkeit der Subjektivität

Die letzte Folgerung aus den Ergebnissen der Quantenmechanik, die eng mit dem Problem der Komplementarität verknüpft ist, ist die Abhängigkeit des Beobachteten vom Beobachter und damit der Einzug der Subjektivität in die geheiligten Hallen der Wissenschaft. Bis zur Entwicklung der Quantenmechanik konnte die materielle Welt nur konstruiert werden um den Preis, dass die Individualität, der Geist, daraus entfernt wurde. Jetzt musste man feststellen, dass es so etwas wie objektive Tatsachen nicht mehr gab. Gerade der Welle-Teilchen-Dualismus der Materie hat gezeigt, dass je nach Art der Fragestellung die Natur in entsprechender Weise antwortet. Will der Betrachter durch seine Versuchsanordnung eine Welle sehen, so stellt sich die Materie wellenartig dar. Soll der Versuch ein Teilchen zeigen, so zeigt sich die Materie teilchenartig. Man könnte dieses Szenario natürlich weiterdenken und sich fragen, wie die Materie sich möglicherweise sonst noch zeigen würde, wenn wir in der Lage wären, andere Fragen zu stellen.

Wie dem auch sei, durch das komplementäre Verhalten von Materie zeigt sich, dass der Betrachter durch die Art seiner Betrachtung das Geschehen auf mikrophysikalischer Ebene beeinflusst. Man muss nicht so weit gehen, wie es seinerzeit der irische Philosoph George Berkeley getan hat, in dem er die Auffassung vertrat, dass Sein nichts anderes heißt, als wahrgenommen zu werden („esse est percipi“). Nach dieser Ansicht würde alle Materie verschwinden, wenn niemand mehr da ist, der sie betrachtet. Niemand von uns glaubt ernsthaft, dass das der Fall ist, übrigens auch Berkeley nicht. Wenn auch niemand mehr da sein  sollte, um die Dinge zu betrachten, so gäbe es – laut Berkeley – doch immer noch eine letzte Instanz, einen letzten allumfassenden Beobachter: Gott. Auch wenn viele Berkeley seinerzeit für einen Spinner hielten, so ist er doch heute näher an der Wahrheit als so manch anderer Denker. Denn wenn ohne einen Beobachter die Materie auch nicht verschwände, so steht doch eines mit Sicherheit fest: Mit der Materie so wie wir sie wahrnehmen hätte das, was dann übrigbliebe, nur noch sehr wenig zu tun.

Eine der größten Merkwürdigkeiten all dessen bleibt die Tatsache, dass diese Substanz, die wir Materie nennen und die „vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt“, und die sich auf mikrophysikalischer Ebene quasi ins Nichts verflüchtigt und nur noch aus einem miteinander verbundenen Geflecht aus Beziehungen zu bestehen scheint, unter unserem Blick und unseren Handlungen zu der von uns wahrgenommenen „Festigkeit“ auskristallisiert, was wir mit dem Begriff der „Dekohärenz“ bezeichnen. Es besteht also zweifellos eine Wechselwirkung, vielleicht so etwas wie eine gegenseitige Daseinsversicherung, zwischen der Welt und uns.

Was in diesem Essay unter anderem gezeigt werden sollte, ist, dass der Ausbau der positivistischen Methode zu einer Weltanschauung jeglicher Grundlage entbehrt, da sie auf einem überholten Materiebegriff gründet. Das Modell des 19. Jahrhunderts, das sich die Welt und auch den Menschen noch als Uhrwerk vorstellen konnte, ist endgültig zerstört. Das heißt, wenn jemand heute noch eine dezidiert materialistische Weltanschauung vertritt, dann muss er erst einmal darlegen, was er noch unter Materie versteht. Falls er die Erkenntnisse der modernen Physik akzeptiert (wovon man bei einem Materialisten ausgehen sollte), wird er dabei in ernsthafte Schwierigkeiten kommen. Kurz gesagt: Dem Materialisten ist die Materie abhanden gekommen.

Von Carl Gustav Jung stammt der Satz, dass alle Wissenschaft eine Funktion der Seele ist und alle Erkenntnis in ihr wurzelt. „Sie ist das größte aller kosmischen Wunder und die conditio sine qua non der Welt als Objekt. Es ist im höchsten Grade merkwürdig, daß die abendländische Menschheit, bis auf wenige, verschwindende Ausnahmen, diese Tatsache anscheinend so wenig würdigt. Vor lauter äußeren Erkenntnisobjekten trat das Subjekt aller Erkenntnis zeitweise bis zur anscheinenden Nichtexistenz in den Hintergrund.“ (C.G. Jung: Archetyp und Unbewusstes. Olten und Freiburg: Walter 1984. S. 16.)

Die wohl größte Erkenntnis der modernen Physik ist somit die Tatsache, dass das Subjekt nicht aus dem Erkenntnisprozess herausgenommen werden kann. Wir haben nur deshalb einen Einfluss darauf, wie sich uns die Wirklichkeit zeigt, weil wir selbst Teil eben dieser Wirklichkeit sind. Nicht nur die Erscheinungen um uns herum stehen in einem unentwirrbaren Geflecht von Beziehungen, sondern auch wir selbst sind ein Teil dieses komplexen Beziehungsgeflechts. Unsere Individualität ist somit – und das ist eine schöne Erkenntnis – unhintergehbar geworden. Hinter dieses Wissen sollten wir nicht mehr zurückfallen. 

(Foto: iStock)

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

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