Die Naturwissenschaften haben heute, neben vielen kleineren, zwei große Probleme: Zum einen scheint der Erkenntnisgewinn vermehrt nur noch von der Höhe des Geldes abzuhängen, das in entsprechende Projekte gepumpt wird. Zum anderen leiden sie, von der Physik einmal abgesehen, noch immer an einer überkommenen ontologischen Konzeption, die Materie als tot, geistlos und passiv betrachtet und darüber hinaus glaubt, alles auf diese so gedachte Materie reduzieren zu können.

Teure Großprojekte – wenig Erkenntnisgewinn

Die letzte große Umwälzung innerhalb der Physik war die Entwicklung der Quantenmechanik, die 1927 mit der sogenannten Kopenhagener Deutung durch Wolfgang Pauli und Werner Heisenberg ihren vorläufigen Abschluss fand. Waren diese revolutionären Einsichten noch beinahe kostenlos zu haben, so sieht das heute vollkommen anders aus. Der 2008 in Betrieb gegangene Large Hadron Colider (LHC) dürfte alles in allem zirka vier Milliarden Euro gekostet haben, von den laufenden Kosten einmal ganz abgesehen. Die Erkenntnisse, die durch diese gewaltige Anlage bis heute produziert wurden sind allerdings eher gering.

Immerhin hat das Gravitationswellen-Observatorium LIGO (Laser Interferometer Gravitational Wave Observatory/Laser-Interferometer), das gerade für 200 Millionen US-Dollar generalüberholt wurde, nach jahrzehntelanger erfolgloser Suche jetzt offenbar den Nachweis geführt, dass Gravitationswellen wirklich existieren. Ob das letztlich eine gute Nachricht ist, darf bezweifelt werden, denn es wird die Zeit der Gigantomanie in den Wissenschaften möglicherweise noch unnötig verlängern.

Auch in der Biologie wurden und werden gigantische Summen in Großprojekte investiert. Das letzte große, zirka drei Milliarden Euro teure und im Jahr 2000 beendete Human Genom Project (HGP), an dem unzählige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt über Jahre hinweg beteiligt waren, hatte nur ein wirklich interessantes Ergebnis: Der Mensch besitzt weitaus weniger Gene, als man bis dahin angenommen hatte. Die direkten Folgen aus dieser mit gigantischem Aufwand betriebenen Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind marginal. Bis heute hat diese Forschung keine wesentlich neuen Einsichten in Krankheiten und damit auch keine wirksamen Medikamente hervorgebracht, der Zusammenhang von Genotyp und Phänotyp ist geheimnisvoller denn je und zum Verständnis der Morphogenese hat dieses Projekt ebenfalls nichts beigetragen.

Auch die Medizin bleibt nicht von derartigen Großprojekten verschont. Das ebenfalls milliardenschwere, 2013 gestartete und auf zehn Jahre angelegte Human Brain Project (HBP), hat das Ziel, eine vollständige Computersimulation des menschlichen Gehirns zu erstellen. Doch auch diesen Versuch wird aller Wahrscheinlichkeit nach das gleiche Schicksal ereilen. Denn ob sich im Anschluss tiefere Einsichten in Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson ergeben, darf bezweifelt werden. Ganz zu schweigen von Antworten auf die Frage, was das Bewusstsein eigentlich ist und wie es mit neuronalen Prozessen zusammenhängt. Das alles wird auch im Jahr 2023 so ungeklärt sein wie heute. Interessanterweise gab es von Beginn an auch innerhalb der scientific community kritische Stimmen und nicht wenige halten dieses Projekt für ein beeindruckendes Beispiel menschlicher Hybris. Das gibt Anlass zur Hoffnung und lässt sich vielleicht als ein erstes Anzeichen dafür deuten, dass hier bereits ein Umdenken eingesetzt hat.

Wir sollten uns von der Gigantomanie in der Forschung verabschieden. Foto: iStock

Kritisch muss in diesem Zusammenhang auch die medizinische Praxis gesehen werden, die sich selbst aufgrund ihrer ontologischen Konzeption, den menschlichen Körper als eine komplizierte Maschine zu betrachten, zur bloßen Körpermechanik degradiert hat. Obwohl sie auf diesem Gebiet zum Teil eindrucksvolle Ergebnisse vorzuweisen hat, gilt doch unabhängig davon auch hier, dass trotz eines immer höher werdenden Aufwandes und immer kostspieligeren Therapien immer weniger Menschen wirklich geheilt werden. Denn heilen heißt im ursprünglichen Sinn, den Menschen in seiner Ganzheit, bzw. seiner psycho-physischen Einheit, wahrzunehmen und ihn dementsprechend zu behandeln. Die etymologische Nähe des Wortes heilen zum englischen Wort whole für ganz, offenbart bereits die ursprüngliche Bedeutung des Wortes. Von heilen in diesem Sinn ist die moderne Medizin allerdings weit entfernt und mehr noch dürfte der Anteil iatrogener, das heißt durch ärztliche Maßnahmen verursachter Erkrankungen nie zuvor in der Geschichte so hoch gewesen sein wie in heutiger Zeit.

Überkommene Vorstellungen und neue Perspektiven

Neben den immensen Kosten, die für immer weniger Erkenntnisgewinn anfallen, liegt das Hauptproblem innerhalb der dargestellten Disziplinen am Festhalten überkommener Vorstellungen. So häufen die Wissenschaftler zwar Fakten auf Fakten und Zahlen auf Zahlen, sind aber nicht mehr in der Lage, diese zu interpretieren, da oftmals der passende erkenntnistheoretische Rahmen fehlt. Die alten Paradigmen reichen nicht mehr aus, um die gewonnenen Daten zu interpretieren und neue Paradigmen sind zwar in Sicht, werden aber zum Teil mit unerbittlicher Härte bekämpft.

Dabei gäbe es eine Vielzahl interessanter, vielversprechender Ansätze und Ideen, die streckenweise auch schon Eingang in das Denken so mancher zeitgenössischer Naturwissenschaftler gefunden haben, aber dessen ungeachtet immer noch ein Nischendasein fristen. Innerhalb der Biologie wäre das beispielsweise die Erkenntnis, dass die Evolution weniger durch Kampf, als vielmehr durch Kooperation gekennzeichnet ist. Dazu gehört die Einsicht, dass Materie bereits über protovitale Eigenschaften verfügt. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, dass Organismen immer schon über Subjektivität (Innerlichkeit) verfügen, Empfindungen haben und Werte repräsentieren. Dazu gehört die von James Lovelock und zum Teil auch von Lynn Margulis entwickelte Gaia-Theorie, die die Erde als lebendigen Organismus betrachtet. Und dazu gehören natürlich die Erkenntnisse der Quantenphysik, das heißt die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, das Wissen um die Verbundenheit allen Daseins und die Einsicht, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist, sondern sich in Beziehungsstrukturen auflöst.

Zur sogenannten Schulmedizin gäbe es eine Vielzahl alternativer Heilmethoden, die aber aufgrund ihres gänzlich anderen Ansatzes nicht kompatibel mit der herkömmlichen Medizin sind, die unbeirrbar an überkommenen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit festhält. Und noch immer ist aktuell, was der Mediziner Viktor von Weizsäcker vor vielen Jahrzehnten schrieb, dass es doch „eine erstaunliche, aber nicht zu leugnende Tatsache [ist], dass die gegenwärtige Medizin eine eigene Lehre vom kranken Menschen nicht besitzt. Sie lehrt Erscheinungen des Krankseins, Unterscheidung von Ursachen, Folgen, Heilmitteln der Krankheiten, aber sie lehrt nicht den kranken Menschen. Ihr wissenschaftliches Gewissen erlaubt ihr nicht, über ein so ungeheures Geheimnis zu sprechen und so wäre es unter der Würde oder über der Demut dieses Gewissens, vom kranken Menschen etwas Wissenschaftliches sagen und lehren zu wollen.“

Nur in der Öffnung der Wissenschaften hin zu neuen, zum Teil radikal neuen Anschauungen könnte eine Lösung für die genannten Probleme liegen. Neben der Medizin ist es gerade die Biologie, die, Epistemologie und Ontologie betreffend und allen quantenphysikalischen Erkenntnissen zum Trotz, noch immer im materialistischen Denken des 19. Jahrhunderts gefangen ist. Das gilt selbst noch für die Psychologie, die, seit sie sich an den vermeintlich exakten Wissenschaften orientiert, im wahrsten Sinne des Wortes ihre Seele verloren hat. Der Wunsch des amerikanischen Psychologen James Hillman, ihr wieder den gebührenden Platz innerhalb der Psychotherapie zu geben, ist weiter denn je davon entfernt in Erfüllung zu gehen.

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert sein, in dem die alten Vorstellungen von Geist und Materie und ihrem Zusammenwirken überwunden werden. Unter anderem wird das mit einer radikalen Aufwertung der Materie einhergehen. Der britische Philosoph Galen Strawson hat dazu ein hervorragendes Essay verfasst (why physicalism entails panpsychism), in dem er zeigt, dass ein wirklicher Materialist (real physicalist) der Materie bereits mentale Eigenschaften zugestehen muss, wenn er nicht – Stichwort Emergenz – an Wunder glauben möchte. Noch immer aber gehen viele Wissenschaftler von der überkommenen Vorstellung aus, Materie wäre eine tote, geistlose und inerte Substanz, aus der auf wundersame Weise Leben und Geist hervorgehen. Darüber hinaus glauben sie, dass diese so gedachte Materie die einzige und eigentliche Wirklichkeit darstellt und komplexe Systeme verstanden werden könnten, wenn man sie auf ihre vermeintlichen Teile reduziert. So gilt in der Biologie, wie auch in der Medizin, der Hirnforschung und auch in der Psychologie leider auch heute noch, was Goethe bereits vor fast zweihundertfünfzig Jahren schrieb: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben/Sucht erst den Geist heraus zu treiben/Dann hat er die Teile in seiner Hand/ Fehlt, leider! nur das geistige Band.“

Dabei geht es nicht darum, den pragmatischen Reduktionismus als Methode zu kritisieren, der in vielen Fällen ein heuristisch fruchtbarer Ansatz ist, um zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Was aber verurteilt werden muss ist der Versuch, aus einer wissenschaftlichen Methode eine Weltanschauung gemacht zu haben. Dieser ontologische Reduktionismus des „Nichts-anderes-als“, den Julian Huxley treffend als „nothing else buttery“ bezeichnet hat, ist ein Hauptgrund für das Scheitern der Wissenschaften in vielen zentralen Fragestellungen und mehr noch liegt hier eine Ursache für die Entheiligung der Natur. Denn Leben und Bewusstsein sind dann eben „nichts anderes als“ materielle Prozesse.

Die Aufgabe sollte demnach sein, nicht mit immer mehr finanziellem Aufwand immer weniger Ergebnisse zu liefern, sondern sich neuen erkenntnistheoretischen Perspektiven zu öffnen und sich von der Gigantomanie der Forschung zu verabschieden. Es sollte auch nicht vergessen werden, was Bertolt Brecht in seinem berühmten Theaterstück Das Leben des Galilei die Hauptperson sagen lässt: „Dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern.“ Darüber hinaus muss der unsägliche Nexus von Wissenschaft und angewandter Technologie aufgebrochen werden. Das heißt, philosophisch gesprochen, weniger Francis Bacon, für den wissenschaftliche Erkenntnis gleichbedeutend mit Macht über die Natur war, und mehr vorsokratischer Geist innerhalb der scientific community, der zwar nach natürlichen Erklärungen für gewisse Phänomene sucht, aber nicht zwangsläufig an ihrer technischen Umsetzung interessiert ist.

Darüber hinaus muss die Wissenschaft ihre eigenen Dogmen (die es eigentlich gar nicht geben sollte) in Frage stellen. Dazu gehört der Glaube an die Maschinenhaftigkeit der Natur und damit auch des Menschen sowie – noch einmal – die Überzeugung, Materie wäre geistlos und unlebendig, um nur zwei der wichtigeren zu nennen. Das lange Zeit vorherrschende Dogma innerhalb der Biologie, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden können (Lamarckismus), hat die Entwicklung in diesem Bereich über viele Jahrzehnte blockiert. Seit Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts weiß man aber (Stichwort Epigenetik), dass die durch Methylierung bestimmter DNA-Abschnitte verbundenen epigenetischen Modifikationen durchaus an die nächste Generation vererbt werden können. Wenn diese Erkenntnis trotz eines eigentlich unhinterfragbaren Dogmas möglich war, was für neue Einsichten wären erst möglich, wenn die Wissenschaft sich von ihren eigenen Vorurteilen und aus dem Zwang zur Verwertbarkeit ihrer Erkenntnisse lösen würde?

Unabhängig davon wäre eine solche Wissenschaft eine humanere, da sie alle lebenden Geschöpfe nicht mehr nur als Objekte, sondern als autonome Subjekte mit eigenem, von uns unabhängigem Wert betrachten würde. Tierversuche beispielsweise, so wie jede Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis, die dazu angetan ist, die Natur oder den Menschen in irgendeiner Weise zu schädigen oder ihrer Würde zu berauben, wären undenkbar. Der Mensch wäre nicht mehr einer inhumanen Apparatemedizin ausgeliefert, Liebe wäre mehr als das Epiphänomen eines neurophysiologischen Prozesses und vielleicht würde gar der Begriff Seele wieder Einzug in die Psychologie halten, so wie James Hillman es immer erhofft hatte. 

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Eckart Löhr ist Gründer von re-visionen.net und verantwortlicher Redakteur. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich Umweltethik, Philosophie und Gesellschaft.

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