Warum wird ein Mensch, dessen Genom von dem eines Schimpansen nur minimal abweicht, ein Mensch und kein Schimpanse? Wie lässt sich die Regeneration verletzten Gewebes erklären, wie nehmen Organe ihre speziellen Formen an und was sind die Mechanismen, die diese Entwicklungen steuern? Diese und andere bis heute nicht oder nur unzureichend geklärten Fragen sind es, die der britische Biologe und Autor Rupert Sheldrake in Das Gedächtnis der Natur (so der Titel der deutschsprachigen Ausgabe) zu beantworten sucht.
Wir wissen wenig über Morphogenese
Man weiß heute sehr viel über Gene und wie mittels Transkription und Translation die Synthese der Proteine und damit der Bausteine des Lebens erfolgt, hat aber noch kaum eine Vorstellung davon, wie diese Bausteine sich zu den je individuellen Formen zusammenfügen, „und wenn wir die Morphogenese als Ganzes betrachten, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich für ihren Ablauf ein Programm von isomorpher Struktur in den Genen findet“. Sheldrake leugnet selbstverständlich nicht die Theorie der Vererbung, glaubt aber nicht, dass „der evolutionsgeschichtliche Hintergrund der Morphogenese aus nichts weiter als der Vererbung von Genen“ besteht und setzt den mechanistischen Erklärungsversuchen der Biologie seine Theorie der „Morphogenetischen Felder“ entgegen.
In der Physik spielen Felder zur Beschreibung der Natur eine fundamentale Rolle. Dort sprechen wir ganz selbstverständlich von Gravitationsfeldern, die den Dingen ihr Gewicht geben sowie von elektromagnetischen Feldern, die für die Organisation materieller Systeme verantwortlich sind. Auch ohne dass diese Felder direkter Beobachtung zugänglich wären, zweifelt kaum jemand ernsthaft an ihrem Vorhandensein. Ausgehend von der Existenz dieser physikalischen Felder postuliert Sheldrake nun die These, dass gleichzeitig mit der Entstehung neuer materieller Strukturen – seien sie belebt oder unbelebt – ebenfalls Felder evolvieren, die die zukünftige Entwicklung dieser speziellen Strukturen beeinflussen und ihrerseits von diesen Strukturen beeinflusst werden. Sie sorgen dafür, dass eine einmal eingeschlagene Richtung stabilisiert wird. Das heißt, Morphogenetische Felder beinhalten ein Gedächtnis, das alle bisherigen Entwicklungen der betreffenden Struktur aufnimmt, also kumulativ ist. Dabei sind diese Felder „keine transzendenten Formen, sondern den Organismen immanent“.
Wie und warum diese Felder entstehen, kann Sheldrake zwar nicht beantworten, aber auch „die Physik kann ihre Felder nicht anhand irgendwelcher anderen physikalischen Phänomene erklären, sondern sie allenfalls auf ein fundamentales Ur-Feld zurückführen“. Da diese Felder das Endziel der betreffenden Struktur bereits virtuell enthalten, somit teleologisch organisiert sind, ähneln sie in gewisser Weise dem aristotelischen Konzept der „Entelechie“. Aufgrund ihres evolutiven Charakters unterscheiden sie sich aber klar von den Platonischen Ideen, die als ewig und unentstanden vorgestellt werden.
Neben diesen Eigenschaften stehen die Felder unabhängig von der zeitlichen, wie räumlichen Entfernung untereinander in Kontakt, was Sheldrake als „Morphische Resonanz“ bezeichnet. Diese „unterscheidet sich von den bekannten Arten der Resonanz […] darin, dass sie nicht mit einem Energietransfer von einem System auf ein anderes verbunden ist, sondern einen nichtenergetischen Informationstransfer darstellt“. Die Morphische Resonanz sorgt erst einmal dafür, dass die betreffende individuelle Struktur entsteht. Im Folgenden wird diese Struktur mit einem gewissen Potenzial ausgestattet. Falls es sich dabei um einen tierischen Organismus handelt, steht dieser, beziehungsweise dessen Feld, in Resonanz mit dem Morphischen Feld der betreffenden Art. Sobald dieses Potenzial verwirklicht ist, sorgt die Eigenresonanz dafür, dass die besondere Struktur des Organismus aufrechterhalten wird.
Sheldrakes Idee der Eigenresonanz ließe sich somit als ein um die Dimension des Morphischen Feldes erweitertes Autopoiesis-Konzept verstehen
Die Kontinuität einer jeden individuellen Struktur – und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Elektron oder einen komplexen Organismus handelt – wird demnach durch „Eigenresonanz mit den Aktivitätsmustern der eigenen Vergangenheit hergestellt. Alle Organismen sind dynamische Strukturen, die sich unter dem Einfluss ihrer eigenen vergangenen Zustände beständig selbst neu erschaffen“. Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts prägte der chilenische Biologe Humberto Maturana den Begriff Autopoiesis zur Beschreibung der Selbstorganisation und Selbsterhaltung lebender Systeme. Sheldrakes Idee der Eigenresonanz ließe sich somit als ein um die Dimension des Morphischen Feldes erweitertes Autopoiesis-Konzept verstehen.
Da somit beispielsweise Tiere am kollektiven Gedächtnis der Art teilhaben, müsste laut Sheldrake ein einmal erlerntes Verhalten in Zukunft von allen Individuen der betreffenden Art schneller erlernt werden. Das trifft ebenso auf die Synthese bis dahin nicht existierender Stoffe zu. Je öfter ein spezieller Stoff – zum Beispiel ein medizinischer Wirkstoff – synthetisiert wurde, umso einfacher und schneller sollte das in Zukunft unabhängig vom Ort geschehen. Schenkt man Sheldrakes Ausführungen Glauben, so ist das bereits in Teilen wissenschaftlich bestätigt worden. Andere Wissenschaftler bestreiten das vehement. Auf Sheldrakes Homepage lässt sich am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Biologen Steven Rose eindrucksvoll nachlesen, wie um diesen Punkt gerungen wurde und wohl noch immer wird. Sheldrake belässt es auch nicht dabei, seine Theorie ausschließlich auf die Entstehung der Formen anzuwenden, sondern weitet sie konsequent auf andere Bereiche aus. Im Mittelpunkt dabei steht das Gedächtnis, der Prozess des Lernens sowie die Organisation tierischer und menschlicher Gesellschaften.
Sheldrakes Thesen stoßen auf Widerstand
Abgesehen von wenigen Ausnahmen – eine davon ist der Physiker und Träger des alternativen Nobelpreises Hans Peter Dürr (1929-2014) – sind die Thesen Sheldrakes meist auf erheblichen Widerstand innerhalb der Wissenschaftsgemeinde gestoßen. Das liegt zum einen natürlich daran, dass sich die Biologie – den quantenphysikalischen Erkenntnissen zum Trotz – immer noch im mechanistisch-reduktionistischen Paradigma bewegt, zum anderen liegt es aber auch in Sheldrakes Theorie selbst begründet. Bis heute ist es trotz vieler Experimente nicht gelungen, seine Theorie eindeutig zu beweisen. Das ist vielleicht auch gar nicht möglich. Einige Wissenschaftler bestreiten nämlich grundsätzlich die Falsifizierbarkeit seiner Theorie.
Darüber hinaus fällt es dem Biologen und ehemaligem Mitglied der Royal Society schwer zu erklären, woher das gänzlich Neue kommt, wenn seine Felder sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie eher konservativen beziehungsweise habituellen Charakters sind und die Eigenschaft haben, einen einmal eingeschlagenen Pfad zu stabilisieren und bildlich gesprochen „festzutreten“. Seine Erklärung, dass den Morphischen Feldern neben inhärenten Zielen das Schöpferische selbst innewohnt und „im Auffinden neuer Wege zu diesen Zielen besteht“ ist dabei nicht sehr überzeugend.
Doch trotz dieser Einwände ist Sheldrake ein intelligenter und kreativer Kopf, dem es gelungen ist, mit dieser Theorie – die im Übrigen vor ihm schon andere vertreten haben – frischen Wind in die stellenweise festgefahrene biologische Forschung zu bringen. Wissenschaft muss, wenn sie glaubwürdig bleiben und nicht dem Dogmatismus, oder schlimmer noch, dem Fundamentalismus verfallen will, offen bleiben für Querdenker, die mit dem herrschenden Paradigma nicht konform gehen. Im besten Fall können gerade solche kreativen Köpfe für die Impulse sorgen, die die etablierte Wissenschaft braucht, um nicht im Althergebrachten zu erstarren.
Rupert Sheldrake: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen. Scherz Verlag, Frankfurt 2011. 544 Seiten, 24,95 Euro
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Juli 2011 auf Literaturkritik.de